Heimliche Gründungsfigur
"Rigorismus der Wahrheit" von Hans Blumenberg
Eine der besten mir bekannten Charakterisierungen von Sigmund Freud habe ich bei Hans Blumenberg gefunden: "Er war einer von denen, die der Wahrheit alles zutrauen, sogar die Freiheit, und daher aus Liebe zur Wahrheit alles von sich und anderen verlangen zu dürfen glauben." Die Pointe dieses Satzes liegt natürlich darin, dass die Psychoanalyse selbst dazu verhilft, diesen "Absolutismus der Wahrheit" als möglicherweise narzisstisch zu durchschauen.
Man hört einen Rest von diesem Vorbehalt noch aus einem Satz heraus, den Arthur Koestler von einem Besuch bei Freud in London im Herbst 1938 notiert hat: "Der Stoiker ist so ganz frei nicht, wie es sich für einen solchen gehört; er befindet sich in der Zwangslage, nicht nur unerschrocken die Welt über sich zusammenstürzen zu lassen, sondern auch dazu, noch den Kommentar der Notwendigkeit zu liefern. Das ist das Schicksal derer, die so gute Theorien machen, dass auch immer noch eine Geschichtsphilosophie abfällt, die zu erklären vermag, was geschehen ist und gerade geschieht, aber damit auch jedes moralische Urteil verbietet."
Freud spricht tatsächlich von sich selbst, im Nationalsozialismus sah er "ein Abreagieren der von der Zivilisation verdrängten Aggression", ein moralisches Urteil verbietet sich. Blumenberg exzerpierte die Stelle aus Koestlers Buch Die Geheimschrift. Das Exzerpt taucht nun am Rande in einer Veröffentlichung eines explosiven Texts aus Blumenbergs Nachlass auf: Moses der Ägypter handelt von dem alten Freud und von Hannah Arendt, und von zwei kränkenden Texten, zu denen Blumenberg einen Vorschlag macht, wie man ihn wohl nur aus der stoischen Weltdistanz eines Gelehrtenlebens machen kann, in dem unentwegt Lektüre in Karteikarten verwandelt wird: Das Buch Eichmann in Jerusalem von Arendt, meint Blumenberg, hätte besser Freud geschrieben.
Denn der Verfasser des Buches über Der Mann Moses und die monotheistische Religion wäre in der Lage gewesen, die mythische Struktur des Verfahrens gegen Eichmann zu erkennen. Eine Struktur, in der Blumenberg ein altes geschichtstheologisches Motiv erkennt: glückliche Schuld (felix culpa). Eichmann war der "negative Staatsgründer". "Er fand im Zionismus vor, was er erzwingen wollte." Schon hier, also am Beginn dessen, woraus dann die "Endlösung" werden sollte, verschränken sich die Motive unauflöslich, sodass es zehn Jahre später zu einer Staatsgründung kommen kann, von der Blumenberg schreibt: "Es gibt Staaten, die durch ihre Feinde gegründet worden sind."
Eichmann, der "negative Übermensch", ist "die heimliche Gründungsfigur dieses Staates", an ihm wird im Prozess "der Reinigungsakt einer großen Rache und mythischen Verewigung zugleich vollzogen". Diese mythische Funktion des Eichmann-Prozesses habe Hannah Arendt nicht verstanden, während Blumenberg, der sich mit Eichmann in Jerusalem während der Arbeit an Arbeit am Mythos (1979) eingehend beschäftigte, an dieser mythischen Funktion ein theoriearchitektonisches Interesse hat, dem er, "gefaßt meinerseits auf Empörungen", nachgibt.
Das Buch Rigorismus der Wahrheit, in dem der Text Moses der Ägypter (aus den späten 80er Jahren, abgelegt in einem Ordner unter dem Titel "Unerlaubte Fragmente") mit zahlreichen thematisch verwandten Karteikarten und Notizen gemeinsam publiziert wird, erlaubt höchst interessante Einblicke in Blumenbergs Denken. Denn so kurz der eigentliche Text ist, laufen in ihm doch mehrere bedeutende Beschäftigungen ineinander: eine im weitesten Sinne wissenschaftstheoretische Reflexion auf die Funktion von Wahrheit in unterschiedlichen Kontexten ("Hannah Arendt hält die unerschrockene Analyse für die Therapie, die sie ihren inzwischen zum Staatsvolk gewordenen Schicksalsgenossen schuldig zu sein glaubt"); eine geschichtsphilosophische Deutung, von der der Herausgeber Ahlrich Meyer schreibt, dass Blumenberg damit einem "zionistischen Narrativ" folgt, von dem man tatsächlich sagen kann, dass es sich seither verfestigt hat, wobei Blumenberg ein "Geschichtsinteresse" des jüdischen Volkes wohl zu bruchlos von Moses bis zu Hitler als kontinuierlich setzt; und für meine Begriffe eine Identifikation mit Freud, die sich nicht so sehr auf den Narzissmus des Stoikers bezieht, der unangenehme Wahrheiten auch in schwierigen Zeiten nicht zurückhält, sondern auf den "Figurierer" Freud, dem Geschichte jederzeit durchlässig ist auf Logiken, die ihr anzusehen sind.
Für Blumenberg ist eine dieser Logiken die von der unbeabsichtigen Wirkung. Die Nazis haben den Judenstaat hervorgebracht, den sie mit der "Endlösung" erübrigen wollten, nachdem sie davor selbst nach einem Territorium dafür gesucht hatten. Hannah Arendt, die dem Staat Israel skeptisch gegenüberstand, wollte dem Zionismus die Staatsbegründung nehmen, indem "sie die Opfer selbst an der Schuld für ihren Untergang beteiligt". An dieser Stelle schlägt Blumenberg sich eindeutig auf die Seite der Älteste und Räte: "Sie wirft denen, die etwas zu retten können meinten oder auch nur vorgaben, vor, sie hätten die Realität gekannt, eine Realität des Unglaublichen, mit dem zu rechnen von niemand verlangt werden kann."
Eine Notiz, die Blumenberg sich aus der Autobiographie von Erwin Blumenfeld macht (eines meiner Lieblingsbücher), deutet auf ein grundlegendes Moment seiner Identifikation mit Freud (und mit einem Judentum, dem er NS-rassengesetzlich zur Hälfte zugeschrieben wurde): Das Erwählungsbewusstsein und der Antisemitismus treffen sich in einem Motiv von Lektüre. "Gehaßt seit Jahrtausenden, weil dieses Volk immer lesen und schreiben konnte."
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