Die Teilung der Welt
Lektüre: "Dekolonialer Feminismus" von Françoise Vergès
Dieses Buch habe ich gelesen, weil ich meine eigene Position mit einer strukturell entgegengesetzten konfrontieren wollte. Ich: weiß, Mitteleuropäer, heterosexuell, begünstigt durch die Aufstiegsbiographie unseres Vaters und die gleichzeitige Bildungsexpansion in Österreich. Francoìse Vergès geht bei ihren Überlegungen von der Beobachtung aus, dass „die Welt, in der wir uns bewegen, von rassifizierten und überausgebeuteten Frauen saubergemacht wird“. Sie hebt auf die Rolle von „Frauen des globalen Südens in dieser Organisation der Welt“ ab, weil sie von da zu einer „Kritik des Rassenkapitalismus und des Heteropatriarchats“ kommt. Das ist dann die prinzipielle Ebene, zuerst einmal aber geht es ihr um eine Kritik innerhalb der Feminismen. Sie konstatiert einen „Verrat, den der westliche Femismus beging“, indem er für Fortschritte kämpfte, die „aus den Frauenrechten eine Ideologie der Assimilierung und Integration in die neoliberale Ordnung gemacht hat“. Vergès schreibt von einem „zivilisatorischen Feminismus“, dem es vor allem darum ging, Priviliegien (in der westlichen Welt, im globalen Norden) zwischen Männern und Frauen 50/50 zu teilen.
Sie hingegen möchte die Geschichte des Feminismus „von der Kolonie aus“ neu schreiben. Das ergibt eine analoge Konstellation zu den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre. „Zur Debatte steht die Art und Weise, in der die Teilung der Welt (in eine Menschheit, die das Recht auf Leben hat, und eine, die sterben kann), die seit dem 16. Jh. von Sklaverei und Kolonialismus vorgenommen wird, auch die westlichen Feminismen durchzieht.“ Europa ist für Vergès der Teil der Welt, der sich auf einer rassifizierten Teilung der Welt errichtet hat. Sie ist selbst Französin, sie wuchs in Réunion auf, einem Übersee-Departement im Indischen Ozean. Sie steht also auf beiden Seiten des Abgrunds zwischen Norden und Süden (so übersetze ich den Begriff „the abyssal line“ von Boaventura de Sousa Santos in dessen Buch Epistemologies of the South). Es zählt zu dessen Bedingungen, dass ich ihn nicht so abgründig sehe. „Das Gefühl, unschuldig zu sein, ist der Kern dieser Unfähigkeit, sich selbst als Weiße zu sehen, und einer Haltung, die sich vor jeglicher Verantwortung in der heutigen Weltordnung schützt“, schreibt Vergès, und sie fährt fort: „Europäische Frauen sind in der epistemologischen Spaltung gefangen, die im 18. Jahrhundert stattfand“ (gesunde, mütterliche, weiße Weiblichkeit gegen die „degenerierte“ Weiblichkeit von Hexen und afrikanischen Sklavinnen).
Im Grunde ist eine revolutionäre Überwindung eines Systems, das „auf Unsichtbarmachung, Ausbeutung und Enteignung gründet“, die einzige Option. Vergès nennt nebenbei eine Figur, zu der ich mehr wissen möchte: Sanité Belair, Revolutionärin und Offizierin der haitianische Armee, die am 5. Oktober 1802 von den napoleonischen Truppen erschossen wurde. Eine Revolution der globalen Verhältnisse erscheint Vergès aber offenkundig auch eine zu vage Perspektive. Stattdessen beschreibt sie einen Kampf zwischen zwei Patriarchaten, zu dem sie nach Alternativen sucht: „Zwei Formen des Patriarchats stehen sich derzeit auf der globalen Bühne gegenüber. Das eine bezeichnet sich als modern, spricht sich für einen gewissen Multikulturalismus aus und erklärt, die Rechte der Frauen zu achten – jedenfalls solange es darum geht, die Frauen in der neoliberale Wirtschaft einzugliedern. Dasselbe gilt für die LGTBQIT+-Personen. Die Eröffnung des ersten Geschäfts für Gender-Neutrale unter dem Namen Phluid und dem Motto fashion meets activism im März 2018 in Manhattan zeigt, dass jede minoritäre Identität integrierbar ist, solange sie sich vermarkten lässt. ... Das andere Patriarchat, neofaschistisch und maskulinistisch, greift Frauen und LGTBQIT+-Personen ganz direkt an und zielt darauf ab, schwer erkämpfte Rechte wieder rückgängig zu machen – Abtreibung, Verhütung, Recht auf Arbeit, Rechte für LGTBQIT+-und Transgenderpersonen.“
Dagegen setzt sie ein Augenmerk auf eine „Ökonomie des Verschleißs und der Ermüdung rassifizierter Körper“, und endet sehr konkret bei einem Thema, das auch die liberalen Medien, aus den ich den größeren Teil meiner Informationen beziehe, schon kennen: „Für dekoloniale Feministinnen ist die Analyse der Arbeit in der Reinigungs- und Pflegebranche angesichts der gegenwärtigen Konfigurationen des Rassen-Kapitalismus und des zivilisatorischen Feminismus eine vorrangige Aufgabe.“ Im Hintergrund bleibt aber als große Frage die nach der Überwindung der unterdrückerischen Weltordung. Ich meine nach wie vor, dass sich mit Überlegungen dazu der Abgrund überwinden lässt, beziehungsweise, dass es eine Solidarität geben kann, die auch jemand wie mich an die Seite der techniciennes de surface (so der französische Euphemismus für Putzfrauen) und anderer unsichtbarer, deklassierter, unfreiwilliger Systemstützen bringen kann.
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