Der Mann im Schatten
Lektüre: "In Isolation. Texte aus dem Donbass" von Stanislaw Assejew
Im Sommer 2012 war ich zum ersten Mal in der Ukraine. Eine Fußballreise nach Lwiw, Deutschland spielte gegen Portugal, ich übernachtete in Rzeszów, von Przemyśl aus nahm ich ein Taxi. Heute ist das eine Fluchtroute, in umgekehrte Richtung. Die Europameisterschaft wurde damals von der Ukraine und Polen gemeinsam ausgerichtet, in Donezk gab es ein neues Stadion und einen neuen Flughafen, alles deutete auf internationale Vernetzung und Orientierung nach Westen. Ich weiß noch, dass ich ein bestimmtes Gefühl hatte, als wir auf der frisch ausgebauten Schnellstraße nach Lwiw fuhren. Ich war davor noch nie auf dem Territorium der früheren Sowjetunion gewesen, es hatte etwas seltsam Erhabenes (de facto spielte mir die Erinnerung einen Streich, denn 2009 war ich in Lettland, aber dort war die Transformation so anders verlaufen, dass ich Riga und Ventspils nicht mehr mit der UdSSR in Verbindung brachte).
Zwei Jahre später war die Aufbruchstimmung von 2012 schon Geschichte. Russland hatte die Krim annektiert, im Donbass herrschte Krieg. Luhansk, eine Stadt, die mich noch mehr interessierte als Donezk, war unerreichbar geworden. Russland hatte eine weitere „unmögliche“ Zone geschaffen, nach Transnistrien, Abchasien und Südossetien. Ein Gebiet, in dem das Leben zwar irgendwie weitergeht, in dem aber unklar bleibt, welchen Gesetzen es folgt.
In den Jahren 2015 bis 2017 gab es aus dieser Welt einen einsamen Korrespondenten, der unter Pseudonym daraus berichtete: Stanislaw Wassin, in Wirklichkeit Stanislaw Assejew, ein „Schatten im eigenen Land“, „der vielleicht letzte Bewohner von Makijiwka, der noch an der Ukraine hängt“. Makijiwka ist ein Teil des Großraums Donezk, eine Industriestadt, in der Assejew sich damals so unauffällig wie möglich bewegte, um das zu beobachten, was er dann an Medien in der freien Ukraine schickte.
Ich stieß auf ihn durch den erschütternden Dokumentarfilm The Bright Path, in dem er davon berichtet, wie er schließlich doch erwischt wurde – es folgten „einunddreißig Monate Gefangenschaft und Folter“. 2019 wurde er freigelassen. 2020 erschienen seine Texte aus dem Donbass auf Deutsch unter dem Titel In Isolation: Isoljazija heißt das Foltergefängnis, in dem er fast drei Jahre festgehalten worden war.
Ich habe seine Berichte schon im Zeichen des russischen Invasionskrieg gelesen. Sie haben an vielen Stellen prognostische Qualität, vor allem aber kann man sie auch als Grundlage für Überlegungen für eine etwaige Nachkriegsordnung nehmen. Denn die Ukraine hat ja das Ziel, ihre territoriale Unversehrtheit in den Grenzen von 1991 wiederherzustellen – nebenbei: das wäre eben jener „Sieg“ im Krieg, von dem viele Politiker aus unerfindlichen Gründen nicht sprechen wollen. Die Niederlage Russlands würde allein darin bestehen, in seine unversehrten Grenzen verwiesen zu werden, ein großer Unterschied zu 1945.
Doch was wäre das für ein Donbass, der dann wieder ukrainisch wäre? Assejew beschreibt sehr eindringlich, dass die russisch unterstützte Okkupation 2014 sehr wohl auf breite Unterstützung der verbliebenen Bevölkerung traf. Es war aber eher eine abwehrende Unterstützung, geprägt durch „die mentale Grenze eines klassischen Proletariers ..., der nur dann stolz auf seine Existenz ist, wenn er unter unmenschlichen Bedingungen schuftet“. Die „Landsleute ... sind eine harte Hand gewöhnt und vermissen bürgerliche Freiheiten kaum“, die Volksbewegung auf dem Maidan hatte im Donbass nie großes Verständnis. Billige Wurst ist für Assejew die Chiffre für die unterwürfige Genügsamkeit, mit der die Menschen in der VRD (Volksrepublik Donezk) und VRL (Volksrepublik Luhansk) alles hinnehmen: „zwei Jahre Hyperinflation, eklatante Versorgungsengpässe und Artilleriefeuer, Wucherpreise und Kursstürze, Repressionen, zwei Hungerwinter“.
Wer jetzt für Verhandlungen zwischen Putin und der Ukraine plädiert, sollte über diesen Satz von Assejew nachdenken: „Das Minsker Abkommen ist nur deswegen alternativlos, weil allen die Nichterfüllung recht ist.“ Er deutet dabei übrigens auch an, dass der damalige Präsident der Ukraine, der „Schoko-Zar“ Poroschenko „mit seinen unlauteren Geschäften“ mit Minsk sehr gut leben konnte – wie auch Deutschland. Merkel und Steinmeier versuchten, containment mit appeasement zu verbinden: „Aber wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass die enormen Anstrengungen der deutschen und der französischen Seite auf der diplomatischen Ebene dem russischen Präsidenten nicht mehr als ein zynisches Lächeln entlocken.“
Der Zynismus der Machtpolitik von Putin besteht auch darin, dass er die Mangelwirtschaft und den Totalitarismus der Sowjetunion zu einer Art Naturgesetz verfestigt, dem sich Menschen bereitwillig unterwerfen, die nie etwas anderes gelernt haben, als Verantwortung zu delegieren. Deswegen auch das Unverständnis für den Maidan, „wo die Menschen sich etwas Unvorstellbares erlaubt haben: Statt ihre Arbeitszeit in eine bestimmte Menge gesetzter Schrauben zu verwandeln, haben sie am Feuer Lieder gesungen und Kaffee getrunken. Diese Art zu leben verstehen wir nicht, aber sind wir daran schuld?“
Assejew zieht einen kühlen Schluss: „Ein nüchterner Blick sagt, dass Donezk für die Ukraine verloren ist.“ Zugleich wird aus seinen Berichten aber auch deutlich, dass das Leben in den so genannten Volksrepubliken so verwüstet ist, dass ohnehin nur ein radikaler Neubeginn dort etwas zum Besseren wenden könnte. Auch deswegen muss die Ukraine diesen Krieg gewinnen.
Kommentare
Einen Kommentar schreiben