Der Geist von Europa
Die elektronischen Landkarten bringen manchmal kuriose Ergebnisse. Wenn man zum Beispiel in einen gebräuchlichen Routenplaner die Strecke Algiers – Cartagena eingibt, kommt man auf ein Fußdistanz von 31 Stunden. Dabei bleibt leider unberücksichtigt, dass man dazu über das Wasser wandeln müsste, und selbst wenn man über diese seltene Gabe verfügte, möchte man sich lieber nicht ausmalen, wie die Begegnung mit einem Kreuzfahrtschiff auf dieser Strecke ausfallen würde. Im Mittelmeer ist viel Verkehr, das ist der Ausgangspunkt für Merle Krögers Thriller Havarie, in dem die Strecke von Algiers nach Cartagena eine wichtige Rolle spielt.
Die Berliner Autorin, die zusammen mit ihrem Partner Philip Scheffner und mit ihrer gemeinsamen Firma Pong auch im Fach des politisch engagierten Dokumentarfilms (Revision) tätig ist, hat so etwas wie das Buch dieser Saison geschrieben. Die Ströme von Menschen nach Europa, auf die wir durch Nachrichten von sinkenden Booten und achtlos verstauten Leichen immer wieder aufmerksam werden, diese Ströme zerlegt Kröger in ihre Bestandteile. Der erzählerische Clou von Havarie ist dabei, dass im Mittelpunkt ein großes Kreuzfahrtschiff steht, das ironischerweise den Namen Spirit of Europe trägt. Hier ist die ganze Welt vertreten, als Passagier oder im Personal: der Erste Offizier ist Franzose, die Sicherheitskraft ist Inderin, der Barcrooner, der nebenbei auch zu älteren Damen in die Kabine geht, ist von den Philippinen, ein Wäscher, der sich mit einem Nigerianer eine fiktive Identität teilen muss, ist aus Syrien. Eine ältere Passagierin ist aus Deutschland und kann nur deswegen auf der Spirit of Europe sein, weil sie vor vielen Jahren einmal ein Schiff verpasst hat, das in die Geschichte einging: die Wilhelm Gustloff, die mit vielen Flüchtlingen an Bord im Jahr 1945 unterging. Ein Kreuzfahrtsschiff, nebenbei.
Die Spirit of Europe gerät in Havarie in ein so verschlungenes Netzwerk an Geschichten und Bezügen, dass sie irgendwann die Maschinen stoppen muss. Neben ihr treibt nämlich ein anderes Gefährt, ein Schlauchboot mit Menschen, die aus Algerien nach Europa zu kommen versuchen. In dieser Konstellation, zu der dann auch noch ein Boot der spanischen Küstenwache stößt, auf dem sich wiederum zufällig eine Frau aus Spanien befindet, die auf einen Mann aus Algerien wartet, verdichtet sich Havarie zu einer unter normalen erzählerischen Umständen kaum noch tragfähigen Szene. Aber Merle Kröger schafft es, den ganz normalen Wahnsinn der Zusammenballung von Existenzen in den globalisierten Systemen nachvollziehbar zu machen. Selbst der Ire, der mit der Videokamera von der Reling der Spirit of Europe nach unten filmt, bekommt noch einen ausführlichen Nebenplot, und der ukrainische Kapitän eines von Algiers aus in See stechenden Frachters erhält einen Einberufungsbefehl in einen Krieg an einem ganz anderen Ende von Europa.
Das Mittelmeer, vom lateinischen Europa aus gern als das Mare Nostrum (unser Meer) bezeichnet, wird in Havarie zu einem Kreuzungsort nicht nur der Machtverhältnisse in der Globalisierung, sondern auch ihrer historischen Voraussetzungen. Merle Kröger ist eine Autorin, die das Prinzip der Regionalkrimis (die mehr oder weniger spannende Reiseführer darstellen) auf die Spitze treibt, und dabei auch entscheidend bricht: Denn das Mittelmeer ist für einen Regionalkrimi nun einmal zu groß, und auch historisch zu gewichtig. Und doch nimmt Kröger es mit allen diesen Bedingungen auf, und geht dabei noch in die Offensive, indem sie eine gründlich recherchierte Geopolitik aus einzelnen Ereignissen erkennen lässt. Eine dem Buch beigegebene Fotostrecke erschließt all die Motive, die sie beiläufig versammelt, sodass schließlich sowohl philippinische Guerillas am Ende des Zweiten Weltkriegs wie die Eröffnung einer Shopping Mall im syrischen Tartus ihre relevante Stellung in Havarie bekommen.
2012 hat Kröger mit dem preisgekrönten Buch Grenzfall dieses Prinzip der Recherchefiktion schon sehr erfolgreich angewandt. Damals ging es um Rumänen, die auf dem Weg nach Deutschland zu Tode kamen. Längst liegt Rumänien in Europa, die Außengrenzen haben sich verschoben, die Nöte sind nicht kleiner geworden. Die Intensität dieser Nöte schlägt sich auch in Krögers Stil nieder, der gelegentlich zu einem kaum mehr zu verarbeitenden Stakkato wird. So arbeitet es, das ist die Suggestion, in den Gehirnen der Menschen, deren extreme Situation sie nachvollziehbar zu machen versucht. Der Spirit of Europe findet sich 2015 nicht mehr in der epischen Erzählbarkeit, sondern in Sätzen am Rande des Zusammenbruchs.
Merle Kröger, Havarie, Ariadne Krimi im Argument Verlag, 240 Seiten
Bei meiner bevorzugten Online-Buchhandlung Osiander
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