Filme und Folgen (48)
Notizen: Juli 2022
Mountains and Heaven in Between Dmytry Hreshko Ukraine 2022
Schauplatz ist das Dorf Kolotschawa in den Waldkarpaten in der südwestlichen Ukraine. Dmytry Hreshko begleitet ein paar Sanitäter auf ihren Wegen. Sie fahren über winterliche, häufig schlecht befestigte Straßen zu alten Menschen mit diffusen Schmerzen und Problemen. Einmal treffen sie auch auf einen jungen Mann, der nach Extremsaufen einen Angstanfall hat. Zu den üblichen Problemen (stark überhöhter Blutzucker, Folgen von Alkoholkonsum) kommt zunehmend auch Covid, die Uniformen verändern sich, das weiße Ganzkörper-Overall wird Pflicht. Ein alltagsethnographischer Aspekt ist schon in diesen Szenen deutlich, mit seinen weiteren Beobachtungen im Dorf hebt Hreshko noch stärker die lokale Kultur hervor: gemeinsame Rituale werden von Dorfmusik und der Kirche geprägt, Leben auf Abstand kann sich hier niemand vorstellen. Wir sind im Paradschanow-Land, im Herzland der ukrainischen Nationalfolklore. Der tolle Soundtrack (eine modernistische Überschreibung der traditionellen Musik, genannt wird eine Hudaki Village Band) bildet eine Art Verbindung zwischen dem ländlichen Leben und den Vernunftansprüchen, die mit der Ambulanz ins Haus kommen. (Festivalscope)
Warum Ukraine? Bernard-Henry & Levy Marc Roussel 2022
Seit 2014, als er sich für den Euromaidan engagierte, lebt Bernard-Henry Lévy „im Takt der Ukraine“. Er macht sich dafür stark, dass Europa sein eigenes Schicksal nicht getrennt von dem des postsowjetischen Landes sehen kann. Im Frühjahr 2022 entstand dieser Film, mit dem Lévy dazu aufrufen möchte, die Ukraine zu unterstützen und zu bewaffnen in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland. Er hat in der Zeit seines Engagements vor allem mit höchsten Staatskreisen zu tun gehabt, mit dem früheren Präsidenten Poroschenko, mit Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kyiv, mit Julia Timoschenko, der (für meine Begriffe zu Recht sehr umstrittenen) früheren Premierministerin, und schließlich trifft er (nach einer Szene, in der er offenkundig noch Wahlkampf für Poroschenko machte) auf Selenskyj, an den er vor allem eine Frage hat: Werden Sie Putin zum Lachen bringen? Am Ufer des Dnipro (die deutsche Synchronregie auf Arte bleibt beim russischen Dnepr) erscheinen ihm „tapfere, junge Frauen“, die er als Prinzessinnen bis zu den Ufern Europas getragen sehen möchte (das mythologische Bild). Analogien zu Mariupol (wo er wohl nicht als Augenzeuge war, obwohl das Material Gefechtsintensität suggeriert) findet er im Rolandslied und im Warschauer Getto (meint er nicht doch eher den Warschauer Aufstand?), und schließlich in der jüdischen Antike: ein Masada im Feuerregen der Phosphorbomben. Lévy wendet sich gegen den Propagandatopos vom rechtsradikalen Asow-Bataillon, und generell gegen einen Antisemitismusverdacht gegen die Ukraine, die er im Gegenteil als ein neues Israel sieht, als eine Nation, die zeigt, wie man überlebt. In Mariupul kommt seinem Evakuierungvorschlag (den er schon einem westlichen Staatschef unterbreitet hat) Selenskyj mit der Kapitulation zuvor. Bei einem Medikamententransport in die Ostukraine trägt er selbst schon Tarnuniform und ukraninisches Nationalabzeichen. Bei einem „brüderlichen Mahl“ mit Kämpfern wird ihm die Soldatenpampe vorgesetzt, der Schnitt erfolgt genau in dem Moment, in dem er das Zeug tatsächlich zu sich nehmen müsste. In der Sache hat Lévy für meine Begriffe in fast allen Angelegenheiten recht, allerdings hätte dem Film ein größeres Interesse für die Graswurzelstrukturen der demokratischen Ukraine gutgetan, aber das wäre eben nicht sein (staatsmännisches) Niveau. Als Film über einen engagierten Intellektuellen im Krieg ist Warum Ukraine? lächerlich wegen des Gestus des Intellektuellen, aber so funktionieren eben die Kanäle der Aufmerksamkeit. Hemdknöpfe wie gewohnt erst unterhalb des Solarplexus von Interesse. (Arte Mediathek)
Dispatch from Przemysl (Notes for a Democratic Europe) Marine Hugonnier 2022
Eindrücke vom polnischen Grenzbahnhof Przemsyl drei Wochen nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Hier kommen die Menschen aus Lwiw in der EU an, hier hinterlassen einige von ihnen Spuren auf den „Silbersalzen“, auf denen die Schwarzweißbilder dieses kurzen Films beruhen. Ein französisches Kollektiv steht dahinter, die Mitglieder wollen für ein demokratisches Europa kämpfen. Als erste Bezugsfigur nennen sie Anna Politkowskaja. Unter den meist jungen Leuten, die sich vor der Kamera und vor dem Mikrophon zu erkennen geben: eine professionelle Pokerspielerin, die darlegt, dass Putin von Beginn an nicht mehr als einen Bluff vorzuweisen hatte; Sharon, eine Studentin aus Ternopil, ursprünglich aus Kamerun, sie kann nicht so einfach weiterreisen und sieht sich in ihren Rechten verletzt; eine Journalistin aus Nordmazedonien, die nach Kyiv gelangen möchte, weil sonst niemand aus ihrem Land aus der Ukraine berichtet; eine Ärztin, die ihre Tochter in Sicherheit gebracht hat, und nun kampfbereit wirkt, sie ist nicht die einzige, die schon wieder umkehrt. Viele Statements bringen den Geist zum Ausdruck, mit dem Putin nicht gerechnet hat: „wir sind jetzt ein großer Organismus“. Die Zukunft hat die Ukraine schon gewonnen, nun muss sie noch den Krieg gewinnen. Musik: Krogulski, Piano-Oktett. (FID Marseille)
The Long Breakup Katya Soldak 2020
Die amerikanische Journalistin erzählt die Geschichte ihrer Familie, die nach dem Ende der Sowjetunion erst allmählich begreifen musste, was die Ukraine ist: Kharkiv als Lebensmittelpunkt, daneben aber auch große Sommer im russischen Petrovski, die Grenze hatte noch keine wesentliche Bedeutung. Soldak ist alt genug, um sich an eine klassische sowjetische Sozialisierung erinnern zu können. Kindheitsfotos und Kindheitsfreundschaften sowie die Kommentare ihrer Mutter und ihres Stiefvaters strukturieren ihren Film, den man gut als eine Geschichte der unabhängigen Ukraine seit 1991 aus einer persönlichen Perspektive lesen kann: die vergebliche Suche nach „Stabilität“, die Revolutionen von 2004 und 2013 als strukturierende Ereignisse, die Präsidentenwahlen in der Ukraine auch als Marker des Verhältnisses zum bedrohlichen Nachbarn (ihre Eltern halten den Kandidaten Selenskyj für einen „Satelliten“ Russlands). Der Film wurde vor dem Krieg fertig, und hat als Ergebnis eben jene „Scheidung“ oder Trennung, von der im Titel die Rede ist. Trennung auch von Freunden, die einem imperialen Russland zuneigen. Die Ukraine ist ein großes Emanzipationsprojekt, das kann diesem ebenso privaten wie repräsentativen Film entnehmen. (Vimeo-Link von der Regisseurin)
A Tale of Filipino Violence Lav Diaz 2022
Lav Diaz widmet sich (nach seinem Hauptwerk Evolution of a Filipino Family) noch einmal ausdrücklich der Marcos-Diktatur, die in den Jahren 1973/74 beginnt, die Volkswirtschaft auf private Bereicherung umzustellen. Im Mittelpunkt steht ein junger Erbe aus einer feudalen Familie: Servando Monzon III (sein Großvater, ein Despot alter Schule liegt die erste Hälfte des Films hindurch im Sterben). Das Zuckergeschäft, in dem auch die Hacienda der Monzons involviert ist, wird verstaatlicht, also zugunsten des Marcos-Clans umstrukturiert. Servando sucht nach einer Perspektive, das Familienunternehmen zu retten, muss dabei aber unangenehme Gespräche mit den Marcos-Agenten führen. Seine Frau Belinda ist eine frühere Magd, tatsächlich aber eine linke Intellektuelle, die Servando in Schwierigkeiten bringt, weil ihr Bruder als kommunistischer Agitator in der Gegend aktiv ist – die Monzon-Familie wird dadurch angreifbarer für die Kleptokraten. Lav Diaz holt historisch weit aus, zieht zwei weitere Zeitebenen ein, die allerdings nicht in Rückblenden aufgesucht werden, sondern einerseits chronikalisch eingebunden werden (Lektüre von Aufzeichnungen eines ersten Monzon, der 1574 aus dem spanischen Huesca kam, von wo er als Krimineller weg musste), andererseits durch die Erinnerungen einer traumatisierten Frau namens Tiya, die auch für Servando relevant sind, denn er ist das Kind einer Vergewaltigung durch japanische Besatzer im Jahr 1945. Die Geschichte der philippinischen Gewalt, die Lav Diaz aufruft, hat also beträchtliche historische Tiefe. Der Film (viele lange Gespräche in ruhigen Einstellungen) nimmt sich viel Zeit, um die lokale Gemeinde vorzustellen, die auch eine queere Fraktion hat, sowie eine christlich-fundamentalistische Sekte. Servando stellt schließlich fest, dass er drei Geschwister hat, von denen er nie etwas wusste, weil der Patriarch sie einfach weggeben hat. So wird seine Mittlerfunktion (ein aufgeklärter Vertreter der herrschenden Klasse) noch prägnanter, und zugleich seine Individualität noch stärker traumakollektiv: „I am a child of violence, a product of rage.“ (FID Marseille)
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