Filme und Folgen (42)

Notizen: Januar 2022

What’s Up, Doc? Peter Bogdanovich USA 1972

Vier gleich aussehende Taschen (overnight cases) bilden den Ausgangspunkt. Verschiedene Individuen und Gruppen sind hinter verschiedenen Taschen her, ins Spiel kommt auch die von Howard Bannister, einem Musikologen aus Iowa, der mit seiner Verlobten Eunice Burns nach San Francisco gekommen ist, weil er sich Hoffnungen auf eine Förderung von der Larrabee Foundation macht - sein Konkurrent Hugh Simon ist ein eitler Schwätzer. Howard ist ein Nerd, wie er im Buche steht. Er wird von einer Hochstaplerin wachgeküsst, die einfach den Platz an seiner Seite einnimmt, sich Burnsy rufen lässt, beim ersten Dinner der Foundation erregt sie schon Aufsehen. Bogdanovich arbeitet das gesamte Repertoire der Hawksianischen Komödie durch (mit einer kleinen Verbeugung auch vor Frank Tashlin). Meine Lieblingsszene ist die, bei der Judy (so heißt Burnsy wirklich: gespielt wird sie von Barbra Streisand) sich mit Howard „unter dem Tisch“ trifft, um mit ihm heimlich etwas zu besprechen, daraufhin stecken aber auch die anderen Männer am Tisch ihren Kopf unter die Tischdecke, und es gibt ein lustiges Konklave. What’s Up, Doc? ist klassisch in seinem orchestrierten Chaos, die Straßen von San Francisco geben eine großartige wilde Jagd her, schließlich trifft man sich vor einem Richter, um den Hergang der ganzen Sache zu rekonstruieren. Es läuft auf eine einfache Differenz hinaus: Eunice ist nicht Burnsy, und Hugh ist nicht you, äh: er, nämlich Howard. (Datei aus dem Netz)

Everything Will Change Marten Persiel Deutschland 2022

Eine Flaschenpost aus dem Jahr 2054 für die Gegenwart der frühen zwanziger Jahre, die hier als Epoche der geohistorisch reichsten Biodiversität gesehen wird: so vielfältig wird der Planet bald nicht mehr sein, es sei denn, Marten Persiels Menetekel wird beherzigt. Er baut eine kleine Spielfilmhandlung, ein „Märchen“ mit einer Alibi-Queste, die auf einem roten (verbrannten?) Planeten Erde drei junge Leute namens Fini, Cherry und Ben zu einer Arche führt, in der sie auf Experten treffen, die ihnen (uns) erklären, was die Erde einmal war (jetzt gerade noch ist): ein unerschöpfliches Reservoir an Arten, an exotischen Luxuskreaturen der Evolution. Die Giraffe dient als das Tier, an dem sich der Verlust begreifen lässt, denn Cherry weiß mit ihrem Bild im Jahr 2054 nichts anzufangen. Persiel arbeitet mit Material aus Naturdokumentationen, er lässt die Paradiese der Tiere vor der Safarisierung des Fernsehens noch einmal erstehen, allerdings eingebettet in graphische Benutzeroberflächen, die aus heutigen Browser- und Tab-Anordnungen hochgerechnet sind. Hübsches Detail: auch eine Vinyl-Ausgabe von Pet Sounds steht für die maximale Biodiversität. Der von Marten Persiel als „Universalkünstler“ ausgewiesene Wim Wenders, der gern zu großen Themen befragt wird und antwortet (siehe zuletzt Now), ist hier auch wieder dabei. (Max-Ophüls-Preis MOP online)

A Movie Capital (Eiga mo miyako) Toshio Iizuka Japan 1991

1989 fand in Yamagata, gute 350 Kilometer nördlich von Tokio, zum ersten Mal ein Dokumentarfilmfestival statt. Zu den Initiatoren zählte Shinsuke Ogawa, der in der Gegend mit seiner Produktionskommune aktiv war. Die Kleinstadt sollte Filmhauptstadt werden für das asiatische dokumentarische Kino. Toshio Iizuka drehte über die erste Ausgabe diesen Bericht. Noch bevor die ersten Gäste landen, drängt sich die Weltgeschichte ins Bild: aus China kommen Nachrichten von der Niederschlagung der Freiheitsbewegung. Dann werden am Flughafen Leute wie Serge Daney mit Applaus begrüßt. Einzelne Filme werden vorgestellt, die Filmemacher äußern sich vor japanischen Interessenten dazu, oder Shinsuke Ogawa filmt ein Gespräch mit ihnen, zum Beispiel mit A. Marek Drazewski aus Polen. Beindruckend ist Jon Jost, der die Niederlage der progressiven Bewegungen der 60er Jahre in den USA verzeichnet. Eine vielversprechende Entdeckung ist Raquel Gerber mit einem Film über eine Sambaschule in Brasilien, die ihre Verbindung mit den afrikanischen Dogon feiert. Jemand telefoniert mit China bezüglich der Anreise von Tian Zhuangzhuang und bekommt die Auskunft, dass man aus der Volksrepublik nicht einfach so verreisen kann. Auf einem Asia Symposion sprechen Stephen Teo, Peggy Chao, Teddie Co, Nick Deocampo, Zarul Albakri. In Korea, so erfährt man, können sich nur Pornos und fantastische Filme ohne Einschränkungen ausdrücken. Schließlich taucht eine lebende Legende auf: Kidlat Tahimik, „a desperate Third World filmmaker trying to make a deadline in Japan“, so stellt er sich vor. Eine Rolle seines Films ist noch in Manila im Labor. Man sieht ihn seine Scherze treiben, am Schneidetisch sitzen, jemand stellt ihm einen Teller Spaghetti hin, das Zelluloid ist für ihn genauso Nahrung, er macht auf Filmophag. Einfach ein super Typ. Das Festival endet, im Februar darauf ist Yamagata verschneit. Aus Deutschland kommen 15 Minuten von Sabine Morawietz mit Bildern von der Mauer, an der mächtig gemeißelt wird. Aus Bratislava kommt ein Fax: Dusan Hanak, auch er einer der Gäste in Yamagata, kann seinen Film Pictures of the Old World, der in der CSSR als negativ verboten war, endlich zeigen. Yamagata hat seinen Hauptstadt-Status im ersten Jahr bewährt. Nur Nestor Almendros wurde von der Geschichte eher widerlegt. Er hatte auf offener Bühne verkündet: dictators in the future are going to have a tough job. Oder vielleicht hat er ja recht, aber es gibt zunehmend mehr Diktatoren, die sehr an ihrem schwierigen Job hängen. (DAFilms Stream)

Para:Dies Elena Wolff Österreich 2022

Am Anfang sieht alles wie eine Doku über ein Paar aus: Lee und Jasmin sitzen nebeneinander auf einer Couch, zwischen den beiden hat alles sofort perfekt funktioniert, sie sind „synced seit 2018“ (ein Sync-Marker wird erwähnt, beide haben damals GRM von Sibylle Berg gelesen). Lee und Jasmin leben im Haus von Lees Mutter im Salzburger Land, österreichische Eigenheimidylle mit Rosenbogen im sorgfältig gepflegten Garten, die Mutter taucht nicht auf. Wenn sie auf der Straße durch den Ort gehen, zitieren sie bewusst den Film Blau ist eine warme Farbe. Das Leben auf dem Land ist für sie ein bisschen Programm, hier ist es mit einem anderen Lebensmodell noch eine Sache, in der Stadt ist die Arbeit (der Überwindung der Heteronormativität, müssen wir uns dazudenken) schon gemacht. Englisch und Deutsch und vor allem Österreichisch laufen durcheinander, bei dem Wort schoaf (scharf, als Ausdruck für etwas Begehrenswertes, wie zum Beispiel Jasmins booty, oder von Lee für sich selbst insgesamt, sie liebt ihre Schärfe) weiß man heutzutage gar nicht mehr, ob das noch unbefangen verwendbar ist, oder nur noch als Appropriation aus dem Ibiza-Video. Allmählich werden auch Spannungsmomente erkennbar, von Jasmin wird eine (überwundene) Essstörung angedeutet, eine „gezielte Selbstdestruktion in Raten“. Lee und Jasmin spielen Liebe im Innenpool, das ergibt tolle Farben, insgesamt ist die Kameraarbeit stark. Als eine Freundin zu Besuch kommt, gibt es eine harte Party, aus der Jasmin halb ausgeschlossen ist. Ein Dialog über Futlapperln (österreichische Macker:innensprache für Schamlippen) kehrt Intimstes provokant nach außen. Schließlich erklimmt der Meta-Dokumentarfilm die Klippe zur Ununterscheidbarkeit vom Spielfilm, und erweist sich spätestens mit den Credits als solcher: Amira, die Frau hinter der Kamera („unser Stalker“, davor gegenwärtig „wie eine Katze“), kommt ins Bild, ins Begehrensspiel, und in die Machtdynamik: Zeig mir das Material. Elena Wolff und Julia Windischbauer haben Para:Dies gemeinsam erarbeitet, ein spannendes Experiment, eine Entdeckung. (MOP online)

Freda Gessica Généus Haiti 2021

Freda („wie die Voodoo-Gottheit“) ist die jüngste Tochter von Mommy Jeanette, einer Frau, die in einem Getto in Port-au-Prince einen kleinen Laden hat. Alle Konzentration gilt dem älteren Sohn Moise (Moses), der das Land verlassen soll, zum Beispiel nach Chile, um es irgendwo besser zu haben. Die Schwester Esther bleicht ihre Haut mit Cremes und lernt einen Senator kennen, der sie sogar heiratet. Freda aber studiert Anthropologie, ist in politische Bewegungen (gegen Korruption) eingebunden, steht dem Voodoo näher als den christlichen Religionen. Ihr Freund Jeshua macht Kunst, und möchte sie dazu bewegen, ihm nach Santo Domingo zu folgen, auf die andere Seite der Insel, in die Dominikanische Republik. Von einer stray bullet, die in sein Zimmer einschlug, hat er eine Wunde am Bauch davon getragen. Gessica Généus arrangiert die Frauenschicksale repräsentativ entlang der Optionen, die in einer Gesellschaft bestehen, in der Privilegien (zumeist männliche) der einzige Ausweg sind: Esther schläft sich hoch, bis sie brutal in ihre Grenzen gewiesen wird. Freda bewahrt ihre Integrität, hat allerding schon einen Missbrauch hinter sich. Reflexionen über die Revolution („refaire 1804“) und über das autochthone Symbolsystem (Voodoo/Creole/indigene Kunst) sind im Hintergrund präsent. (International Film Festival Rotterdam IFFR oline auf Festivalscope)

Succession Jesse Armstrong 3 Seasons

Hat etwas von einem Trostpreis für ein Publikum, das in der Mehrzahl wahrscheinlich unterhalb der Vermögensgrenze von fünf Millionen Dollar zu finden sein wird. „Five is a nightmare“, heißt es einmal, man ist damit nur „the tallest dwarf“. Die Kinder des Medienunternehmers Logan Roy haben alle ein Vielfaches, sie sind wirklich schwer reich, und der „Trost“ besteht beim Zuschauen darin, dass sie nicht glücklich sind. Die Serie inszeniert mit Lust den Alltag von Menschen, die beim Ausgeben keine Obergrenzen kennen: viele Folgen sind location pieces, eine Hochzeit in der Toskana, ein Familien-Retreat auf einer Jacht im Mittelmeer, die Hubschrauberflüge von New York auf die Familiengüter sind Routine, Privatjets sind immerhin einmal kurz Verhandlungsmasse. Zu den vier Kindern Connor (Con), Kendall (Ken, Ken WA), Shiv (Siobhan, Pinkie) und Roman (Rome, Romulus) kommen noch zwei entscheidende Figuren für komischen sicher nicht relief: Tom Wambsgans, der Shiv heiratet (Matthew Macfayden ist ein wiedergeborener Stan Laurel), und Cousin Greg, aus dem Nicholas Braun einen schieren Hampelmann des familienkorporativen Irrsinns macht, eine Figur, für die das Wort Opportunismus schon viel zu hoch gegriffen wäre, so stammelnd hängt er an den Dialogfäden, in denen er sich grandios verwirrt. Succession nennt für jede Folge einen Schreib- und einen Regiecredit, dahinter verbirgt sich (ich habe eine große Geschichte über Jesse Armstrong im New Yorker gelesen) offensichtlich einer der besten Schreibräume im neueren Serienfernsehen, es ist also ein Produkt kollektiver Intelligenz, mit der ganzen Produzentenhierarchie, die da auch schnell anfällt. Die Satire vergisst nie ihre Grundlage im Drama, und von den Funktionsweisen des Tech-Kapitalismus bekommt man zumindest qualifizierte Andeutungen. Denn die Roys sind ja unter Aufsicht neurotisch, unter Aufsicht der Börse, die den Wahrnehmungserfolg des Medien-Unternehmens Waystar RoyCo verzeichnet, das langsam in den Anachronismus hinüberdämmert, mit seinem Fernsehsender ATN aber immer noch Präsidenten machen kann oder machen zu können meint, und das im Kampf um die „eyeballs“ noch nicht aufgeben möchte. Die „eyeballs“, das sind wir, die Zuschauer, die in Logan Roy einen Shakespeare-König without a crown erkennen sollen. (HBO/Sky)

Beyroutou el lika (Beirut the Encounter) Borhane Alaouié Libanon 1981

Ein Morgen im Jahr 1987: Haidar befindet sich in einer leeren Hochhauswohnung mit Blick über Beirut. Sein Bruder Mustafa und seine Schwägerin Zamzam sind auch da. Es gibt ein improvisiertes Frühstück, Mustafa betet davor, sie sprechen über ihre politische Loyalitäten am Beispiel einer Zeitschrift, die verteilt wird. Die Stadt ist vom Krieg gezeichnet, Haidar war während dieser Zeit auf dem Land (in Taybeh aka Marjaayoun, einem Dorf im südlichen Libanon), nun sind sie alle zurück. Eine Zeitung hat als Schlagzeile: Zwischen Ost- und West-Beirut sind die Telefonleitungen repariert worden. Haidar geht nach unten und lässt sich von einer Art Concierge einen Apparat geben, tatsächlich kommt er durch, zu Zeina, einer Frau mit bürgerlichem, liberalem Habitus. Zwischen den beiden besteht eine besondere Verbindung, sie haben einander aber lange nicht gesehen, vor allem wollen sie reden, lange Gespräche führen. Haidar (dessen linkes Bein steif ist, Kontext wird nicht gegeben) macht sich (mit einem gelben Mercedes-Taxi) auf den Weg, in das Viertel Aschrafiyya. Der Verkehr ist katastrophal, zwischendurch sammelt Alaouié kleine Beobachtungen aus dem Alltag einer immer noch aggressiven, von vielen Ruinen gezeichneten Stadt ein. Als Haidar das Cafe erreicht, ist Zeina schon weg, sie hat sich von Flipper-Spielern bedrängt gefühlt. Am Abend telefonieren sie noch einmal, ihre Zeit ist nun schon knapp, denn Zeina wird am kommenden Morgen nach Amerika fliegen. Sie verabreden, Cassetten für einander aufzunehmen, Tondokumente, aus denen wir mehr über ihre Beziehung erfahren, und über den Libanon, ein Land, dessen Namen Zeina einmal mit failure übersetzt – eingescheiterter Staat (schon) 1977. Am nächsten Morgen wartet Haidar am  Flughafen, er trifft dort einen Soldaten, der sich als ehemaliger Student zu erkennen gibt, wieder verfehlt er Zeina, dieses Mal verlässt er den Treffpunkt (zu) früh. Seine Cassetten wirft er aus dem Fenster, die Tonbänder geraten buchstäblich unter die Räder. Der Verkehrsstau ist das deutlichste Sinnbild, das Hupen hilft niemand, es steht für eine sinnlose Konkurrenz. Die Beziehung von Zeina und Haidar (eher eine intellektuell grundierte Freundschaft, aus der vielleicht in einem anderen Land eine Liebe hätte werden können) ist das andere: zwischen dem christlichen Osten (Zeina) und dem muslimischen Westen (Haidar) gibt es keine Ökumene. (Berlinale Forum Pressevorführung DCP restaurierte Fassung)

The Chair Amanda Peet Anna Julia Wyman USA 2021

Am Ende ist das mit sechs halbstündigen Folgen doch deutlich zu kurz, um den vielen Facetten einer nervösen akademischen Landschaft in den USA wirklich gerecht zu werden. Sandra Oh spielt Ji-Yoon, Lieraturprofessorin an einem ehrwürdigen College namens Pembroke. Sie übernimmt den Chair, also die Leitung der Abteilung, in einer Zeit, in der die alte geisteswissenschaftliche Leier nicht mehr verfängt: Kollegen wie Rentz (perfekte Besetzung: Bob Balaban) unterrichten Literatur wie einst, von oben herab und mit der längst verschwundenen Autorität, die sie vom Gegenstand auf sich übertragen zu bekommen glauben. Es gibt allerdings auch den „unkonventionellen“, sehr beliebten, charismatischen Bill, der gegen die neuen Orthodoxien der vor allem ihre Diversität betonenden Students verstößt – man will ihm schließlich einen Hitlergruß andichten. Im Detail ist das alles liebevoll gearbeitet, Sandra Oh ist wunderbar, ihre (adoptierte) Tochter ist eine schöne Kunstfigur, die students sind allerdings sehr unterkomplex gezeichnet, stehen aber eh meistens draußen vor der Tür mit Schildern. Für den Soundtrack stand wohl irgendein großer Katalog zur Verfügung, viele Songs werden angespielt, sehr schön war das Wiederhören mit Cemetery Gates von den Smiths: Keats and Yeats are on your side, mit prätentiösen Zitaten kommt man aber nicht weit. 60 Stunden oder sechs Staffeln The Chair, mit sorgfältiger Zeichnung der heutigen Mores und Machtspiele in American Academia, würde ich mir ansehen. (Netflix)

Dni Satmenija (Tage der Finsternis) Alexander Sokurov Sowjetunion 1988

Im Sommer 1987 drehte Sokurov in Krasnovodsk (heute Turkmenbashy, Hauptstadt von Turkmenistan, damals eine Sowjetrepublik) diese sehr freie Verfilmung eines kurzen Romans der Science-Fiction-Autoren Arkadi und Boris Strugatzki: Eine Million Jahre vor dem Weltuntergang erzählt von einem Protest der Welt selbst gegen den Umschlag des menschlichen Wissens in eine Supervernunft (war aber wohl vor allem als wissenschaftspolitische Satire auf den erstarrten Breschnewismus der 1970er Jahren gemeint). Bei Sokurov ist von diesem Motiv, dass die Menschheit zu viel über den Kosmos herausfinden könnte, in dem sie lebt, und dass dieser Kosmos sich dagegen wehrt, nicht mehr viel zu erkennen. Der Protagonist Malyanov ist hier Arzt, er schreibt an einer Untersuchung über den Blutdruck bei Kindern aus altgläubigen Familien, im weiteren Sinn über die Hypothese, ob und inwieweit Religiosität gesundheitsfördernd sein kann. Sokurov etabliert die Situation in der typischen Form seiner Elegien: sepiagetönte Impressionen aus einer urzeitlich wirkenden Landschaft, dazu der großartige, nirgends einordenbare Soundtrack von Juri Khanon. Malyanov bekommt es mit einer Reihe von seltsamen Vorfällen zu tun, seine Schwester taucht unerwartet auf, ein großer Seekrebs in Aspik wird ihm zugestellt. In Gesprächen mit seinem besten Freund Vecherosky wird erkennbar, dass der postnationale Utopismus von Malyanov (der ja auch eine ähnliche Rolle einnimmt wie die Volksschullehrer, die für die Revolution früher an die Peripherie gingen) obsolet wird angesichts neuer Nationalismen. Die Verweise auf das Schicksal der Krimtataren unter Stalin bekommen nach der Annexion der Krim durch Russland neue Brisanz. Diese politische Spur ist aber in das dichte Gewebe versteckt, das Sokurov ausbreitet: eine Fantastik, in der ein katholischer Gottedienst aus Rom auf Italienisch (mit einer Erwähnung der damals heilig gesprochenen Edith Stein) genau so nahe und wirklich ist wie eine Riesenschlange, die Malyanov keine Angst einjagt (er schultert sie einfach und trägt sie aus dem Haus) oder die wie Relikte wirkenden Zeichen der Sowjetmacht in der Landschaft. Tage der Finsternis ist berühmt geworden durch einen Text von Fredric Jameson über postsowjetischen magischen Realismus in seinem Buch The Geopolitical Aesthetic. Tatsächlich hat die enorme Kraft des Films etwas Allegorisches: das Ende eines unglücklicherweise dogmatischen Universalismus im kommunistischen Russland findet in Malyanov und Vecherovsky zwei melancholische Protagonisten, deren schließliche Trennung nichts Gutes verheißt. (Arsenal, es lief die 35mm-Kopie aus dem Archiv der Freunde der deutschen Kinemathek aus dem Jahr 1988, als der Film im Forum gezeigt wurde)

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