Filme und Folgen (29)
Notizen: Dezember 2020
Homo Sperans (Chelovek Neunyvajushchi) Andrei Konchalovsky Russland 2020
Ein Dokumentarfilm über einen Widerspruch: 44 % der Menschen in Russland „kommen kaum über die Runden“, steht im Abspann zu lesen, neben einer Reihe von weiteren bedenklichen Befunden über die ehemaligen Supermacht. Aber 81 % der Bevölkerung Russlands bezeichnen sich als glücklich. Konchalovskys Film kann man ohne weiteres als einen Versuch über die russische Seele nehmen. Er hat Protagonisten in allen Zeitzonen des Landes gefunden: die Familie eines verwitweten Priesters in einem entlegenen Dorf im Osten; einen jungen Mann, der von St. Petersburg nach Magadan geflogen ist, um von dort per Autostopp durch das ganze Land nach Hause zurückzukehren, der aber als Chemielehrer im hintersten Sibirien hängen geblieben ist; einen an Krebs im Endstadium erkrankten Landwirt in der Region Krasnodar; eine Ärztin in einer Region mit burjatischer Minderheit; einen Programmierer und Science-Fiction-Fan (sein Favorit: Kir Bulytschow), der auf dem Land ein Dorfgemeinschaftsprojekt für andere Coder begonnen hat; einen Metallsammler und Youtuber, der für seine Kinder ein sauberes Haus bauen will.
Sie alle antworten auf Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Gott oder dem Glück. Meistens führen die Antworten nirgends richtig hin. Geduld wird als wichtigster Bestandteil des russischen Charakters genannt. Das Einlegen von Gurken für den Winter ist nationales Ritual. Dass alle Waren aus China kommen, ist eine wiederkehrende Klage. Und dass die Straßen in einem so schlechten Zustand sind. Dass das mit korrupten Politikern zu tun hat, bleibt weitgehend im blinden Fleck des Films. Es geht aber eben nicht um Politik, sondern um das Leben, wie Menschen in Russland es „russisch“ für sich deuten. Ein Propagandafilm über einen Nationalcharakter, der bei aller konkreten Vielfalt doch so etwas wie eine Propaganda von unten erkennen lässt, wenn es das gibt. (Filmfestival Cottbus Stream)
Conference (Konferentsiya) Ivan I. Tverdovskiy Russland 2020
Eine Nonne namens Natasha kommt zu dem Betreiber des Dubrowka-Theaters in Moskau, in dem 2002 tschetschenische Terroristen während eines Musicals das Publikum in Geiselhaft nahmen. Bei der Befreiung wurde Gas eingesetzt, 125 Menschen kamen dabei ums Leben, fünf hatten die Separatisten getötet. Die Frau möchte den Raum für eine Gedenkveranstaltung mieten, für eine „Konferenz“, zu der dann allerdings nur einige Menschen erscheinen. Der Hauptteil des Films besteht aus diesem gemeinsamen Gedenken. Auch Galya, die Tochter von Natasha, war damals im Publikum (es sind aber jeweils Schauspieler, keine persönlich Betroffenen, die Tverdovskiy zeigt). Ein Mikrophon wird herumgereicht, Menschen erinnern sich an die Ereignisse von damals, einige waren damals noch Kinder. Fragmentarisch wird das Geschehen erhellt, zum Beispiel in den Worten eines jungen Mannes, der von einem mystischen Moment erzählt, als er begriff, dass Batman nicht kommen würde. Kein Superheld griff damals ein, stattdessen ein Staat, dem es auf hundert Tote nicht ankam.
Nach einer Weile erlaubten die Terroristen nicht mehr, die Toiletten zu benützen, die Notdurft musste danach im Orchestergraben verrichtet werden, was nach einer Weile zu Kurzschlüssen und einem Feuer führte. Im Zentrum steht schließlich das Zeugnis von Natasha, die auf eine außerordentliche Weise zur tragischen Figur wurde, erst durch dieses Geheimnis im Zentrum des Films wird vieles verständlich von ihrem nicht leicht erträglichen Pathos. Nach Mitternacht wollen die Verantwortlichen das Theater schließen, Natasha besteht aber darauf, weiterzumachen - „we have to talk it through at least once“. Der Versuch, sich im Theater zu verbarrikadieren, hält nicht lange an, der Film endet schließlich draußen, in einem Alltag, der für Natasha niemals wieder begonnen hat. Konferentsiya widmet sich mit fast religiösem Ernst einem der großen traumatischen Ereignisse in Putins Russland, und findet für die Trauerarbeit eine überzeugende Form. (Filmfestival Cottbus Stream)
Alice Adams George Stevens USA 1935
Ein Drama aus der jungen amerikanischen Klassengesellschaft, in der es schon ein Patriziat gibt, in der aber zwanzig Jahre aufwärts oder abwärts einen großen Unterschied ausmachen können. Die Vorlage stammt von Booth Tarkington, dem großen Chronisten der Gründerzeit in den USA (siehe auch The Magnificent Ambersons). Alice Adams ist, unter den heiratsfähigen Frauen in South Renford, vergleichsweise arm. Der Vater hat sich für ein Angestelltenleben entschieden, nun ist er auch noch krank, die Familie hält nicht mehr mit im „race“. Das wird in der langen Ballsequenz zu Beginn deutlich: Alice nimmt zwar teil, Tanzpartner findet sie aber nur in ihrem (dazu verdonnerten) Bruder und in einem Mr. Dowling, der die peinliche Aussichtslosigkeit seiner Familie verkörpert. Alice hat immerhin einen großen Vorteil. Sie ist schön (Katharine Hepburn im Alter von 27, 28 Jahren). Als Arthur Russell (der einzige interessante Mann im Raum, „tall and dark and romantic“, gespielt von Fred MacMurray) sie auffordert, muss sie so tun, als wäre sie sehr gefragt, kann ihrer Erleichterung also nicht nachgeben. Immerhin hinterlässt sie einen Eindruck, der ein Wiedersehen interessant macht. Russell ist aber der Cousin der Familie Palmers, der ersten Familie in der Stadt. Alice möchte ihm unter allen Umständen die Umstände ihrer eigenen Familie verheimlichen. Das Paar findet dafür einen Ort, der dann bis zur letzten Szene bedeutsam bleibt: the porch, die Veranda, halb drinnen, halb draußen.
Nach einer Stunde in etwa ist die romantische Angelegenheit geklärt, Alice und Arthur besiegeln ihre Liebe mit einem Kuss. Nun muss die Liebe aber noch sozial integriert werden, mit einem Dinner, zu dem die Familie Adams lädt, und das sich zu einem Debakel entwickelt: ein schweres Mahl (unter anderem mit Rosenkohl) an einem unglaublich heißen Tag. Alice antizipiert ihre gesellschaftliche Niederlage und den Rückzug von Arthur, ohne ihm auch nur Gelegenheit zu geben, sich als Herzensmensch zu beweisen. Die Armut macht ihre Sache hier mit sich selbst aus, übrigens großartig gespielt und auch gefilmt und ausgeleuchtet: eine der großen emotionalen Niederlagen des Kinos, eine Szene schon an der Grenze zum Wahn, denn Alice nimmt Arthur gar nicht mehr wahr, der bleibt aber auch ein unbeholfener Galan, im Grunde eine bloße Attrappe. Es gibt ein Happyend, ein wirklich schönes und berührendes, aber es ist eine dieser Erlösungen, die nur besiegelt, was davor an nicht lösbaren Widersprüchen aufgetürmt wurde. Interessant ist der Bruder von Alice: Walter lebt vor allem downtown, während sich die Häuser der Reichen dadurch ausweisen, wie weit draußen sie sind. Auf dem Ball verschwindet er, shooting dice with the boys in the cloakroom. Er kennt die (schwarzen) Musiker persönlich, und hat „wonderful darkie stories“ auf Lager. Er ist ein Grenzgänger in die unzugängliche Welt der Schwarzen.
Für das Dinner wird eine Frau names Malenda engagiert, eine schwarze Matrone, eine Freelancerin als Bedienerin („sie macht das tageweise“). Sie wird in Ansätzen als komische Figur gezeichnet: eine grobschlächtige, ungeschickte Servierkraft, der das Dienstmädchen-Requisit immer wieder ins Gesicht rutscht. Es ist letztlich eine Bloßstellung der Familie, aber auch der Figur selbst, die von Stevens keinerlei redeeming facets bekommt. Bei all seinem brillanten Sensorium für Klassenspannungen ist ihm diese Malenda (mit ihrem, rassistisch gesehen, Nebenwiderspruch) kaum richtig zu Bewusstsein gekommen.
Alice Adams fand ich auf der Liste von Quarantäne-Filmen, die Wes Anderson erstellt hat. Daraus ergab sich meine zweite Begegnung mit George Stevens, den ich bisher kaum beachtet hatte, dabei zeigt er sich auch hier wie in A Place in the Sun als wirklich großer Hollywood-Regisseur.
Unsere Kinder Roland Steiner DDR 1989
Kurz vor dem Ende der DDR wagte sich Roland Steiner an Jugendkulturen, die es im Sozialismus eigentlich nicht geben sollte: Gruftis, Skinheads, Nazis, aber auch Antifaschisten der Roten Front Pankow. Der Titel des Films ist deutlich genug: das sind (auch) die Kinder der DDR. Übrigens bis heute. Bei einem Prozess gegen zwei Skins macht der Staatsanwalt die ganze Hilflosigkeit des Systems, das in seinen Sprachhülsen gefangen ist, deutlich. Motiv der jungen Nazis ist tatsächlich in erster Linie „Hass auf diesen Staat“, oder umgekehrt das Bedürfnis nach einem „gesunden Nationalstolz“ (dass das „große starke Reich“ der Nazis sehr kurz dauerte, spielt keine Rolle). Die kleinen Demütigungen, das Misstrauen, die ständige Kontrolle erleben sie aber alle, Rechte wie Linke, und auch die Gruftis, die als „Grabschänder“ verunglimpft werden. In West-Berlin sind zu dieser Zeit die Republikaner stark, auch das bleibt nicht unerwähnt, den wenigen (paar tausend) Ausländern in der DDR neiden die Skins „dass sie hinfahren können, wo sie wollen“. Aus der Haft schreibt ein junger Mann namens Frank (Alias: Schmutz) einen Brief an die „Mutti“, ein erschütternder Text.
Steiner filmt bei Prozessen, auf der Straße (einmal kommt ein Vopo vorbei und macht wie nach Drehbuch die Rolle des Staates im Alltag deutlich), in Kellern, in denen Musik gemacht wird. Er fragt Stefan Heym, der spricht von den Jahren 30-32, an die er sich erinnert fühlt, und zeigt sich dann erstaunlich weitsichtig: „Wir wissen nicht, wie sich das Klima entwickelt“, und er meint nicht das gesellschaftliche. Christa Wolf sucht das Gespräch mit zwei jungen Rechten: „Ich wills wirklich mal hören“. Und so hört sie sich eben die keineswegs offensiv vorgetragenen Sätze an, dass man vom Nationalsozialismus „nicht nur die Untaten sehen soll“, dass Ausländer „vorgezogen“ werden, dass unter Hitler Deutschland „wieder geachtet wurde“. Wolf spricht das Problem einer „riesigen Scham“ an, die nach den Nazijahren eigentlich da sein müsste, die es aber nicht gibt. In diese Lücke setzte die DDR ihren ideologischen Antifaschismus. Von diesen Konflikten gibt Steiner ein Bild, auch im Gespräch mit Müttern, die ihre Söhne nicht mehr verstehen, wenn sich einer, im Gesicht immer noch ein Kind, in SS-Uniform fotografieren lässt. „Dieser Film ist ein Plädoyer für das Zuhören und das offene Sprechen“, heißt es abschließend, in einer Geste der Rechtfertigung gegenüber einem System, das diese Kinder (und die Probleme, die sie verkörpern) dem anderen System hinterließ, in das hinein es sich auflöste. (Filmfestival Cottbus Stream)
Freies Land Milo Harbich Deutschland 1946
Der zweite Film der DEFA nach dem Krieg bereitete die kommunistische Machtübernahme im Osten Deutschlands vor, mit einem „Tatsachenbericht“, in dem Flüchtlinge, Bauern und Siedler als „Darsteller ihres eigenen Schicksals“ fungieren. Vor allem der Kreis Lebus nördlich von Frankfurt/Oder dient als Beispiel dafür, wie von einem Nullpunkt aus eine landwirtschaftliche Produktion wieder in Gang kommt. „Der ganze Spuk“ ist mit einem Mal verflogen, dabei wird auf den Nationalsozialismus ausdrücklich keine Silbe verwendet, sondern es geht um eine andere historische Dimension, um die Junker und Feudalherren. Auf einem Plakat, das in einer Montagesequenz kurz auftaucht, wird der Bezugsrahmen mit fünf Jahrhunderten bestimmt: 1525 bis 1945. Und es wird sogar noch ein größerer Horizont bemüht: „wie in der Frühzeit der Menschheit“ beginnt das Wirtschaften nach dem vollkommenen Zusammenbruch wieder von vorn, Maschinen sind anfangs noch Mangelware.
Im wesentlichen ist Freies Land ein Propagandafilm für die Gegenseitige Bauernhilfe, eine Vorfeldorganisation der späteren SED, die hier allerdings ganz unideologisch einfach als rationaler Zusammenhalt gesehen werden will, als ein Instrument der Verteilung von Ressourcen: da kann dann ein Landrat eben „ein paar prima Deckhengste loseisen aus einem Gestüt eines anderen Kreises“. Eine Frau Jeruscheit bleibt von einem Flüchtlingstreck in der Gegend, nachdem ihr Irmchen auf der Strecke verstorben ist. Sie bekommt eine Kuh zugeteilt und beginnt mit ihrer anderen Tochter ein neues Leben. Dass ihr Mann, gebürtig aus Königsberg, „dreimal entlaust“ und nach Quarantäne frei von übertragbaren Krankheiten, später nach ihr sucht und sie dann auch tatsächlich durch Vorsprache beim Landrat findet, beschert dem Film ein persönliches Happyend, das wiederum auch ins Allgemeine gewendet wird: „du hast hier deine neue Heimat gefunden“, das bezieht sich auch auf das Gesellschaftssystem, das im Entstehen gezeigt wird. Das Programm lautet, „aus dem Boden das Äußerste herauszuholen“, kein Quadratmeter bleibt unbeackert. Im Frühjahr 1946 lautet das Fazit: „die Saat ist nun im Boden“, die Ernte wird die DDR sein. Eine Frau auf einer Versammlung hat nach Stillung der ärgsten Not auch schon neue Ideen: „Warum haben wir immer noch kein Kino?“ (Filmfestival Cottbus Stream)
Die Brücke Artur Pohl DDR 1949
Ein Flüchtlings- und Integrationsdrama, in dem die Deutschen ganz unter sich sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg erreicht eine große Gruppe von Umsiedlern eine Kleinstadt in Sachsen. Die Leute werden in Baracken untergebracht, die auf der anderen Seite eines Flusses liegen, der Weg in die Stadt führt (stark zeichenhaft) über eine Brücke, die noch dazu morsch ist. Eine der ersten Ideen für den Bummel in der Stadt: für die Mutter „ein Kopftuch kaufen“. Der Gang durch die Stadt sieht aus wie eine Demonstration, dabei wollen die Umsiedler einfach nur (wieder) sehen, wie normales soziales Leben aussieht. Dem gehässigen Vorschlag, die Koffer gar nicht erst auszupacken, begegnen sie mit ersten Formen von Selbstorganisation: sie wollen sich nicht „verteilen lassen“, wie eine der vorgeschlagenen Lösungen lautet, sie wieder loszuwerden, sondern sie wollen gemeinsam wieder ihre Töpferarbeit machen, dafür eine Genossenschaft gründen und eine alte Ziegelfabrik instand setzen. Die schöne, junge Hanne Michaelis und ihr Vater werden zu den wichtigsten Verbindungsfiguren, auf der „anderen“ Seite stehen der Bürgermeister und sein junger Neffe (der Schauspieler Fritz Wagner spielte davor in Freies Land auch schon einen Flüchtling), der verliebt sich in Hanne, ist aber noch halb in einer Liaison mit der Wirtin Sander, die eine der interessantesten Figuren ist, mit melodramatischen Zügen. Recht deutlich lässt Pohl erkennen, dass im neuen Establishment in der Stadt einige sind, die den Eroberungskrieg bei den „Untermenschen“ guthießen (und das Naziregime insgesamt). Dessen Pointe ist aber eben auch, dass man die Umsiedler nicht zurückschicken kann, denn dort, wo kurz einmal Hitlers „Siegeszug“ stattfand, „kann sich heute kein Deutscher mehr blicken lassen“.
Das Gasthaus und eine Tanzveranstaltung sind wichtige Szenen der Auseinandersetzung, dabei werden nicht wenige Figuren plastisch, einmal macht Pohl mit einem Hosentausch zwischen dem (beleibteren) Bürgermeister und Michaelis mit einer Zeichenhandlung deutlich, was die bessere (pragmatische) Lösung wäre: „wenn sie was verdienen könnten, könnten sie sich auch mehr leisten“ (die ganze Nachkriegsepoche im Westen in einem Zitat, und das in einem DEFA-Film!). Nicht ganz unproblematisch ist die Sexualisierung der Geschichte mit Hanne als der Trophäe, deren Unschuld ähnlich der Brücke ein Symbol für die Gefährdung der gemeinsamen Sache ist. Der schmierige Gerhard Wagner, der ihr nachstellt, hätte ein paar Jahre davor ohne weiteres noch jüdisch/antisemitisch konnotiert sein können. Gleichzeitig atmet Die Brücke aber auch etwas von der Sinnlichkeit, die der Neorealismus brachte. Ossessione ragt in die biedere deutsche Welt deutlich hinein, die Wirtin könnte man sich auch mit Anna Magnani vorstellen. Der Kameramann Fritz Arno Wagner, einer der Funktionskontinuierlichen im deutschen Kino, acht Jahre früher hatte er Ohm Krüger gemacht, filmt die Menge der Umsiedler immer wieder in beeindruckenden Aufstellungen, und findet Bilder, in denen der Fluss, das Schilf, der Schlot der Fabrik und eine Totenprozession zusammenkommen. Das ist dann großes Kino. Und nach einem dramatischen Umschlag öffnet sich die Zukunft: „In sechs Monaten können wir wählen“. Diese Hoffnung hat sich in der DDR, die hier noch kaum zu erkennen ist, denn allerdings nicht wirklich erfüllt. (Filmfestival Cottbus Stream)
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