Filme und Folgen (24)
Notizen: Juli 2020
A Dry White Season (1989, Euzhan Palcy)
Südafrika 1976. Donald Sutherland spielt Benjamin du Toit, einen Geschichtslehrer und ehemaligen Rugbystar. Reiche Musterfamilie, Teil der Elite. Jonathan Ngubene, der Sohn des Gärtners Gordon, wird bei einer Demonstration (für eine bantu education, das nützlichere Englisch lernen statt des kolonialen Afrikaans) getötet, der Vater versucht, die Umstände zu erhellen, und wird selbst zu einem Opfer der Sicherheitskräfte. Jürgen Prochnow spielt Stolz, den Leiter der Spezialeinheiten, ein drastisches Folterbild macht deutlich, wie der Kampf gegen „Subversive“ aussieht. Benjamin involviert sich zunehmend stärker auf Seiten der Familie Ngubene, er lässt sich nach Soweto schmuggeln, wird aufmerksamer auf die sozialen und politischen Realitäten („all my references have switched“). In einem Prozess wird Stolz freigesprochen, dem Film kommt da ein bisschen seine Starpolitik in die Quere, denn Marlon Brando spielt den Ankläger mit viel Pomp, man sieht den Niedergangs eines Giganten, im Gerichtssaal steht er sich mit seiner Eitelkeit („contemptuous fripperies“) selbst im Weg. „Justice in South Africa is misapplied when it comes to the question of race“, heißt es an einer Stelle. Die Lösung von A Dry White Season ist überdeterminiert: persönliche Rache (Stolz wird erschossen) und ein symbolisches Bündnis von Schwarz und Weiß, verkörpert durch Bens Sohn, der damit zum Hoffnungsträger für die Zeit nach der Apartheid wird. Der Film ist ein Dokument dieses Übergangs, noch ganz in den Strukturen weißer Dominanz. (Lief im Arsenal in der Reihe Black Light, ich habe ihn mir daheim angesehen.)
Land of the Pharaohs (1955, Howard Hawks)
Die Antwort von Warner Bros. auf CinemaScope. Pharao Khufu (Cheops) glaubt fanatisch an das zweite Leben, für das er Schätze anhäuft, die er auf kriegerischen Expeditionen raubt. Da er nach dem Tod keine Kontrolle mehr über sein Grab hat, lässt er eine perfekte Totenkammer entwerfen: eine Pyramide, deren Innenraum durch eine ausgeklügelte Vorrichtung unerreichbar gemacht werden kann. Der Architekt dieses Monuments auf Herrscherhybris ist Vashtar, Angehöriger des Sklavenvolks der Kuschiten, bei dem man unwillkürlich an Moses und Israel denkt (konkret durfte davon keine Rede sein, denn Ägypten und Israel waren damals verfeindet). Auftritt Nellifer aus Zypern, die namens ihres Volkes Tributleistungen verweigert, den Pharaoh für sich einnimmt, und dessen Zweitfrau wird. Sie endet schließlich auch in der Kammer. Schlussbild ist der Auszug der Kuschiten aus Ägypten, im Hintergrund die erste der (ikonischen späteren drei) Pyramiden, die selten einmal stärker auch ein Sinnbild für eine „naive“ Religion war.
Todd McCarthy schildert die Entstehung von Land of the Pharaohs in seiner Hawks-Biographie als eine ausgiebige Tour durch europäische Luxushotels und Landhäuser, auf der Hawks mit verschiedenen Drehbuchautoren (William Faulkner, Harry Kurnitz) herauszufinden versuchte, wie man gigantische Komparsenmengen am besten einsetzen könnte. Gedreht wurde on location und in Rom, die Szenen in Ägypten schauen aus, als wollte jemand das Adjektiv „pharaonisch“ mit neuer, exzessiver Bedeutung füllen. Für das Leben am Hof von Khufu müsste man heute in dicken Lettern „zeitbedingte kulturelle Darstellungen“ drüberschreiben, was zwar einerseits eine Selbstverständlichkeit ist, bei verschiedenen Tanzdarbietungen aber doch besonders stark auffällt. Joan Collins (Nellifer) und alle anderen Frauen wurden kosmetisch verdunkelt. Die Ärmsten sind aber eine Gruppe von Sklaven, die mit dem Pharaoh das Geheimnis seiner Einmauerung teilen müssen, denen deswegen die Zungen herausgeschnitten wurden, und bei denen die Regie-Anweisung nur gelautet haben kann: „Schaut einfältig“. Sie sind klarerweise Schwarz.
A Place in the Sun (1951, George Stevens)
Einer der härtesten Filme über eine Klassengesellschaft: Montgomery Clift spielt George Eastman, den Neffen eines Großindustriellen. Er ist in armen Verhältnissen in Kansas aufgewachsen, und bekommt nun von seinem Onkel eine Chance. Die erste Begegnung findet im privaten Rahmen statt, das Büro, wo George vorsprechen wollte, ist leer, und Stevens nutzt die Gelegenheit zu einem Bild mit dem jungen Mann in der Pose eines Magnaten. Damit ist eine Fallhöhe markiert, die zuerst noch eine Aufstiegshöhe ist. „What are we going to do with him socially?“, fragt die Tante, nachdem sie ihn kennengelernt hat. Für sie ist vollkommen klar, dass George in ein „rooming house“ gehört, wie auch ihre Sekretärin. Der Konflikt entsteht daraus, dass George sich zu früh festlegt. Der Onkel schickt ihn in eine Abteilung, in der fast nur Frauen arbeiten. Beziehungen mit dem Personal sind untersagt, aber George ist zugleich ein Eastman und Personal. Er verliebt sich in Alice (Shelley Winters), sie ist bald schwanger. Da erinnert sich der Onkel an George, er bekommt einen besseren Posten, und er wird auch „socially“ befördert. Dass sich Angela Vickers (Elizabeth Taylor) in ihn verliebt, ist nicht verwunderlich: Montgomery Clift ist schon sehr attraktiv. Für George öffnet sich eine grandiose, auch groteske Welt der Privilegiertheit. Eine Art Hawaii-Themendinner fällt besonders auf, es bringt auch mit sich, dass George in dem Moment, in dem ihn Alice buchstäblich im für ihn ungünstigen Moment einholt und ihn unter Druck setzt, eine Blumenkette um den Hals trägt.
George Stevens erzählt die Geschichte (Vorlage war der Roman An American Tragedy von Theodore Dreiser) mit allem, was das klassische Hollywoodkino damals als Stilmittel aufzubieten hatte: allein die verschiedenen Ausleuchtungen von Clifts Gesicht sind spektakulär, dazu ist fast jeder Bildausschnitt sehr genau überlegt (zum Beispiel die halbe Hinein- und Draufsicht in das Kämmerchen, in dem Alice das Geburtstagsfest für George vorbereitet hat, ein Gefängnis de facto; oder die spektakuläre Szene mit dem Radio, das auf einem Bootssteg herumsteht und hören lässt, wie sich die Ermittlungen gegen George zuspitzen, während Stevens das Boot der Reichen eine ausdrücklich arrogante Schleife ziehen lässt); ein wichtiges Mittel sind schließlich zahlreiche „dissolves“, nicht zuletzt ganz am Ende, als George zur Hinrichtung geführt wird. Stevens verbindet da sehr geschickt die christlichen Auferstehungs- und Begnadigungshoffnungen, die der damaligen offiziellen Ideologie entsprachen, mit einem Erinnerungsbild an einen Kuss zwischen Angela und George. Beides ist mit dem natürlich auch vor dem Hintergrund der sozialen Frage resonanten Begriff „a better world“ verbunden: eine bessere Welt hat George für sich verschlossen, weil er mit Alice seine soziale Gegenwart geschwängert hat. Die „bessere Welt“, zu der er Zutritt gefunden hatte/hätte, blieb ihm verschlossen, und ist nun verkapselt in ein Sehnsuchtsbild, das im Moment seines Todes verloren geht. Er hat zweimal aufrichtig geliebt, die zweite Liebe war überwältigend stärker nicht nur wegen Elizabeth Taylor, sondern weil sie aus einem religiösen Straßensänger (der George als Kind war) einen Patrizier hätte machen können. Dass er sich dafür nicht zur Verfügung hielt, ist eine spezifische Form von Tragik in einer Aufstiegsgesellschaft, die zugleich eine Ausschlussgesellschaft ist.
Allerdings war schon seine Beziehung zu Alice von Ungeduld geprägt, was wiederum weniger erstaunt, wenn man später die Mutter von George sieht, Hannah Eastman, gespielt von Anne Revere, als ein Monument der (christlichen) Versagung. Ihr Part wurde übrigens im Schnitt verkürzt, denn sie kam 1951 auf die Schwarze Liste, nachdem sie sich geweigert hatte, vor dem McCarthy-Auschuss Kollegen zu denunzieren. Im Kino sah man sie erst wieder 1970 in Macho Callahan und Junie Moon von Otto Preminger.
Godard hat den Film in den Histoire(s) du cinéma in eine seiner komplexesten Überblendungen überführt (Elizabeth Taylor in A Place in the Sun; Aufnahmen von Leichen aus Dachau, die George Stevens 1945 gemacht hat, in Kodak-Farbe; Giottos Bild von Maria Magdalena und Jesus am Ostermorgen). Die dissolves von Stevens waren für diese Form von Collage schon die Vorboten.
Sword of God (Krew boga) (2018, Bartosz Konopka)
Eine Insel irgendwo im Norden Europas, in der Zeit vor der Christianisierung. Ein Bischof und ein junger Mann werden angeschwemmt, sie sollen den Einheimischen, die bisher nur sporadisch Kontakt mit der restlichen Welt hatten, die christliche Religion bringen. Sie sind auch Vorhut für einen König. Die Kultur, die Konopka sich einfallen lässt, hätte man früher als barbarisch, primitiv oder atavistisch bezeichnet. Heute gibt es dafür kein einfaches Wort mehr, am ehesten wohl indigen oder vorkolonial, wobei der Kunstcharakter der ganzen Sache offensichtlich ist: dass man einen „Schamanen“, der mit nicht viel mehr als einem lehmweiß angemalten Gesicht aufwartet, leicht entzaubern kann, hat auch damit zu tun, dass das Theatralische von Konopkas Projekt unübersehbar ist. Der Bischof gewinnt dann noch eine Feuerprobe, irgendwann kommt auch der König, ein Game of Thrones zeichnet sich aber nie ab. Konopka wäre für die Serie und ihre künftigen Auszweigungen aber sicher ein guter Mann.
L’Enfant sauvage (Francois Truffaut, 1970)
Nach historischen Berichten erzählt Truffaut von einem Jungen, der 1798 im Wald gefunden wurde: ein „wildes Kind“, dessen man nur habhaft wird, indem man es mit Hunden jagt (einen Hund erwürgt der kleine Naturbursche sogar) und indem man seinen Bau ausräuchert. Truffaut spielt selbst den Bürger Itard (so sprach man sich in den Jahren nach der Revolution an: Citoyen Itard), der sich des Falls annimmt, mit wissenschaftlichem Interesse an der Spezies, die sich hier in einer Ausnahme sehen kann. In einem Institut für Taubstumme gilt der Junge als „Idiot“, und Itard gelingt es nur knapp, ihn vor der Überführung in ein psychiatrisches Institut zu retten. Er bringt ihn zu sich nach Hause, in Batignolles, schöne ländliche Gegend, und beginnt gemeinsam mit der Haushälterin Mme Guérin die Sozialisation des Jungen zu organisieren.
Sie folgt keineswegs dem erwartbaren Muster eines zunehmenden Vermenschlichung, sondern bleibt in der Spannung zwischen Automat und Subjekt gefangen. Seinen Namen bekommt Victor, weil er auf Wasser fixiert ist: eau/o/Victeaur. Zwischen Buchstaben, Wörtern, Bedeutungen und Gegenständen bewegt Victor sich wie in einer Abrichtung. Itard sucht nach dem genuin Menschlichen an der Stelle, an der Truffaut Pathos in die Sache bringt: trotz einer Demonstration seiner erworbenen Fähigkeiten wird Victor in die dunkle Kammer gesperrt, eine „abominable injustice“ einzig zu dem Zweck, in ihm einen Sinn für die Revolte wecken. Das Experiment ist erfolgreich, der Junge zeigt sich damit als Mensch. Er lässt Ungerechtigkeit nicht auf sich sitzen. Am Ende scheint der „Wolf“ im „Wolfsjungen“ (so der deutsche Titel) zu siegen, als er davonläuft. Er kommt aber zurück, obwohl Itard meint: „Wir werden ihn nie wiedersehen.“ Ist Victor damit aber wirklich mehr als Haustier geworden? Das bleibt letztlich doch unklar, so etwas wie ein Gedächtnis oder ein Bewusstsein von sich selbst („c’est toi! tu comprends?“) scheint er weiterhin nicht zu haben.
Großartige Kamera, Schwarzweiß, Nestor Almendros, vor allem in den frühen Passagen, in denen der Junge immer wieder im Bild verschwindet wie ein Blatt in einer Baumkrone – meine Lieblingseinstellung war dann auch der Zoom, der zuerst den Jungen auf einem Ast zeigt, dann öffnet sich das Bild, und man sieht schließlich nur noch den Wald. Das ist zugleich das letzte Bild seiner (wilden, nackten) Freiheit.
Crews & Gangs (2020, Neco Celik)
Eine „Heimatserie“ in fünf Folgen. Heimat ist in diesem Fall das Kottbusser Tor, für Touristen auch: Little Istanbul. Celik erzählt eine Generationengeschichte des Kiezes. Der Titel enthält alles Wesentliche: aus Gangs werden Crews. Die heutige Generation der Crews, die jungen Leute, die im (straßentauglichen) Tanz ihre Ausdrucksform finden, stehen aber unter dem Gesetz (oder der früheren Gesetzlosigkeit) der Väter. Die waren die Gangs, vor zwanzig Jahren. Dass eine konkrete Gewalttat von damals bis in die Gegenwart nachwirkt, dient Celik als dramatisches Moment für seine Geschichte. Im Mittelpunkt steht Kian, ein junger Mann, dem eine Hand fehlt. Dazu Tay, ein Tänzer aus dem Wedding, der in Kreuzberg eine Schule aufmachen will. Und Anissia, ein Mädchen aus einer zerbrochenen Familie, das nach Berlin kommt, weil der Vater hier am Kotti wohnt. Anissia macht RSG, wie Tay einmal sofort begreift, wobei sich da Anerkennung und Geringschätzung in dieser Formel wohl die Waage halten: Rhythmische Sportgymnastik.
Manchmal wirkt es ein bisschen komisch, wie Celik den Genrenotwendigkeiten immer wieder zu ihrem Recht verhilft. Aber es klappt. Die Miniserie läuft ja deutlich darauf hinaus, dass alles, was früher Konflikt und Gewalt war, in Theaterpraxis überführt wird – immer wieder auch ganz konkret: Ausdrucks(schatten)tanz vor Bühnenhintergrund. Lustig nebenbei, wie konkret Celik auf die Vergangenheit des heutigen Spitzenkochs Tim Raue anspielt.
Der Cliffhanger am Ende lässt eine weitere Staffel durchaus zu. Neben der Clan-Folklore von 4 Blocks ist Neco Celik jedenfalls der viel interessantere Erzähler. Jemand sollte ihm vielleicht die Chance geben, die wahre Geschichte des Kottbusser Tors zu erzählen, als eines Orts, an dem sich die Geschichte Berlins und der Republik seit 50 Jahren verdichtet: Zuwanderung, Immobilienspekulation, Stadtgestaltung, Geldwäsche/Drogenhandel, Gastronomie, Religion. Alles da. (Joyn)
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