Filme und Folgen (22)

Notizen: Mai 2020

Better Sall Saul Season 5 (Vince Gilligan/Peter Gould)

In dem Instagram Talk mit der ECAL sagt Godard: „Die Schlimmsten sind die Juristen. Sie haben nur die Buchstaben des Alphabets, die sie manipulieren.“ So pessimistisch könnte man das Recht vielleicht auch sehen, wenn man es durch Saul Goodman kennenlernt, den „man with the mouth“, wie er in der fünften Staffel einmal genannt wird. Einer, der sich aus allem herauszureden vermag, oder der zumindest auch in den heikelsten Situation nie den Mund halten wird. Ich weiß spontan keine andere Figur, die so konsequent auf der Grenze der Peinlichkeit existiert. In der fünften Staffel wird ein großer Krieg unter den Kartellen vorbereitet, langsam und genüsslich und brutal. Aber der Kern bleibt doch das Mysterium, dass Jimmy von einer Frau geliebt wird, die viele Gründe hätte, ihn zu missbilligen oder ihm mindestens massiv zu misstrauen, und zu der sogar ein Obergangster sagt: „you could do a lot better“. Größte Szene der zehn Folgen, und ein weiterer Trademark-Kippmoment des Duos Gilligan/Gould: die Hochzeit. Jimmy und Kim heiraten, und zwar strikt aus justizpragmatischen Gründen, um sich voreinander abzusichern, um zu gewährleisten, dass sie einander nie gegenseitig belasten müssten (sie erfährt danach noch weit schlimmere Sachen). Es ist die einzige offizielle „Form“, die sich diese Liebesbeziehung geben kann, ein im Grunde halb kriminelles Bündnis zweier Diener des Rechts. In dem Moment, in dem sie das Versprechen geben, klingt dann aber doch etwas durch, das man wohl nur Liebe nennen kann. Eine Liebe zweier verschreckter Menschen. Ein Pakt gegen die Welt. Kim bekommt in dieser Staffel eine Kindheitsgeschichte, ein Motiv für ihre ungeheure Disziplin. Gesetzesarbeit pro bono als Form einer Selbstermächtigung jenseits der Konkurrenz. (Netflix)

Weiyena – Ein Heimatfilm (Weina Zhao & Judith Benedikt, 2020)

Weina heißt so, weil ihre Eltern nach Vienna ausgewandert sind. Längst ist sie Österreicherin, sie fährt aber immer wieder nach China, und in diesem pointiert als „Heimatfilm“ ausgewiesenen Familienporträt werden die Umrisse der Geschichte der Volksrepublik seit ihrer Gründung und noch davor in der individuellen Geschichte von Weinas Eltern und vor allem Großeltern deutlich, mit spannenden Einblicken auch in die Filmgeschichte des Landes. Die Kulturrevolution war in allen Fällen von prägender Bedeutung, interessant aber ist, dass die nicht selten traumatischen Erfahrungen subjektiv immer zugunsten der Partei und ihrer Einheitsideologie „bewältigt“ wurden. Die Kulturrevolution hat die Menschen also konservativ gemacht, das Wirtschaftswunder ist im Vergleich dazu eine Äußerlichkeit. Einer der besten Filme über China zuletzt. (DOK.fest München)

 

Le fantome de Spandau (Idriss Gabel & Marie Calvas, 2019)

Ein Porträt von Charles Gabel, der während der Dreharbeiten 88 Jahre alt wurde, im Kreis einer großen Familie in den Cevennen. Marie Galvas gehört zu dieser Familie, sie nähert sich ihrem Großvater, der zehn Jahre lang als Gefängnisseelsorger für Rudolf Heß zuständig war, den letzten der Spandauer Gefangenen, der nach der Entlassung von Speer ganz allein seine Strafe bis zum Ende verbüßen musste. Gabel macht zahlreiche Dokumente zugänglich, er wäre dafür gewesen, Heß zu begnadigen, neigt wohl auch zu der Aufassung, dass Heß genuin bereut hat, was wiederum den Neonazis widerstreben müsste, die in ihm ein Opfer und einen Helden sehen. Spannend auch die Gabels insgesamt, die Großeltern nahmen zu den eigenen Kindern mehrfach Adoptivkinder aus Afrika, sodass manchmal eine kleine Weltgesellschaft um den alten Mann versammelt ist, und dann sprechen Menschen von heute über ihr Verständnis der Schuld von damals. (DOK.fest)

The Disrupted (Sarah Colt & Josh Gleason, 2020)

Die USA von heute in Gestalt dreier Menschen: ein entlassener Arbeiter aus Ohio, eine Uber-Fahrerin aus Florida und ein Farmer aus Kansas. Alle kämpfen mit den Bedingungen der neoliberalen Wirtschaft, am stärksten die Frau, die den Algorithmen eines Weltkonzerns ausgeliefert ist: bei Uber verdient man keine fixen Sätze, sondern je nach Auftragslage und Status, also de facto unberechenbar, auch wenn man die Kilometer zählt. Der Farmer wäre nach europäischen Standards wohl eher ein Agrarindustrieller, im dortigen Vergleich ist er ein Familienbetrieb, der sich der weiter gehenden „corporization“ der Nahrungsmittelproduktion zu entziehen versucht. Ein Film nicht zuletzt über Körper, Stimmen, Sprechweisen. (DOK.fest)

Space Dogs (Levin Peter, Elsa Kremser 2019)

Für meine Begriffe hätte es die weltraummythologische Herleitung der Moskauer Straßenhunde gar nicht gebraucht: dass sie Nachfolger oder Reinkarnationen von Laika und anderen Hunden aus der Frühzeit der sowjetischen Raumfahrt sind, ist für die Erzählung nicht wirklich von Belang. Das Archivmaterial ist allerdings interessant, es gibt Aufnahmen von Hunden in Testsituationen, die wahrlich extremen Belastungen ausgesetzt sind – und entsprechend dreinschauen. Davon abgesehen aber ist Space Dogs ein großartig fotografierter Film über die Rückseiten von Moskau, über Bereiche der Stadt, in der die herrenlosen Hunde ihre Orte haben, über eine Koexistenz zwischen zwei Gattungen, die kaum Notiz voneinander zu nehmen scheinen, auch wenn die Hunde manchmal vor einer Autowerkstatt mitten unter Menschen ganz für sich sind. (DOK.fest)

Queen Lear (Pelin Esmer, 2019)

Frauen aus Arslanköy im Hinterland der Küstenstadt Mersin spielen King Lear und gehen damit auf Tournee bis in die einsamsten Dörfer im Taurusgebirge. Was auf dem Theater häufig als Hosenrolle bezeichnet wird, sind hier Kopftuchrollen: Männer spielen manchmal mit, der Lear aber ist immer eine Frau. Dass es um die Verteilung von Land und um einen Überpatriarchen geht, kann man ohne Weiteres auf die politischen Verhältnisse in der Türkei beziehen. Pelin Esmer suggeriert allerdings keine solche Deutung, sie bleibt einfach an der Seite der Frauen, lässt allmählich ihre Lebenssituationen kenntlich werden, und zeigt Prozesse kultureller Ermächtigung (die Rolle des „Impresarios“, eines Kulturbeamten aus Mersin, hätte dabei vielleicht ein bisschen genauer akzentuiert werden können). Großartige Landschaften auch. (DOK.fest)

Hong Kong Moments (2020, Zhou Bing)

Drei Tage während der Proteste in Hongkong im Herbst 2019: Am Beispiel von sieben Protagonisten zeigt Zhou Bing, wie die Freiheitsbewegung in der Stadt wahrgenommen und unterstützt wird. Jocelyn Chau, eine sehr junge Frau, kandidiert für ein politisches Amt bei den Wahlen vom 24. November 2019, auf die es dramaturgisch hinausläuft; ein „frontline protestor“ zeigt sich nur vermummt, ein junger Mann, der für die Frontlinie nicht mutig genug ist, agiert immerhin als „nurse“ und leistet erste Hilfe. Ein Taxifahrer und die Besitzerin einer Teestube sind eher auf Seiten des Regimes auf dem Festland, ein Kandidat bei den Wahlen auch. Die interessanteste Figur ist vielleicht ein junger Polizist, der zwischen den Linien steht: er berichtet von aggressivem Cyberharassment. Zahlreiche Drohnenaufnahmen nähren den Mythos von Hongkong als Stadt der Hochhaus-Schluchten, und lassen die Massenbilder tendenziell abstrakt werden. (DOK.fest)

White Lines (Alex Pina)

Zehn Folgen eines europäischen Mythos prä Brexit: Zwischen Manchester 1996 und Ibiza 2019 wird eine Geschichte enttäuschter Jugendträume sichtbar. Zoe möchte herausfinden, wie ihr Bruder ums Leben gekommen ist, ein Charismatiker mit einem Hang zur Selbstzerstörung. Sonne, Strand, Clubs, Musik, Drogen, Sex, Spiritualität, alles da, macht aber alles letztlich nicht glücklich. „Was, wenn dich die Wahrheit am Ende kalt lässt?“ Die Serie formuliert selbst den Verdacht, der sich am Ende bestätigt. Ohne die Figur des Boxer hätte ich wahrscheinlich abgedreht: ein viriler Romantiker mit heiserer Stimme, ein Nachtclub-Bouncer, der seiner britischen Schutzbefohlenen ausgerechnet Außer Atem von Godard zeigt. Er ist auch Teil der vielleicht käsigsten Sexszene seit Adrian Lyne, aber das überlebt er. Grenzrassistisch: die rumänische Drogenmafia. Das Europa der Hedonisten braucht auch gefährliche Trottel, die kommen immer aus dem Osten. (Netflix)

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