Filme und Folgen (20)

Notizen: März 2020

Was bleibt (Clarissa Thieme, 2009)

Fünfzehn Jahre nach dem Krieg fährt Clarissa Thieme nach Bosnien Herzegovina. Sie fragt sich, „ob man Abwesenheit sehen kann“. Welche Abwesenheit? Man könnte vermuten, sie meint das Leben, wie es vor dem Krieg war. Ihr Film besteht aus sorgfältig komponierten Einstellungen, in denen Bilder aus dem Land zu sehen sind: ein Haus (eine Ruine?) wird abgetragen, zwei Buben spielen einander auf einem Rasen einen Ball zu, ein Mann pflegt einen Garten. Bewegung in den Bildern ist die Ausnahme, die Kamera bleibt ruhig, so entsteht eine Spannung zwischen Moment und Dauer, auf den man die Frage nach der Abwesenheit beziehen kann. Ein Insert am Ende des Films gibt eine konkrete (historische) „Auflösung“ für diese Frage, die aber keineswegs die einzige sein muss. (Arsenal 3)

Namibia Today (Laura Horelli, 2018)

In dem U-Bahnhof Schillingstraße in Berlin hängen an den Wänden Plakate, die an ein Kapitel der Außenpolitik der DDR erinnern: die Solidarität mit dem Befreiungskampf in Namibia. Laura Horelli zeigt Dokumente aus dieser Zeit (vor allem Ausgaben der Zeitschrift Namibia Today, die 1980 bis 1985 in Erfurt gedruckt wurde), und lässt Menschen zu Wort kommen, die damals involviert waren. In Namibia hat Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Völkermord verbrochen. Auch das gehört zu den „Aushandlungen der Vergangenheit“, auf die Horelli abzielt. Der öffentliche Ort dient ihr als Umschlagplatz nicht nur für Kunst im Untergrund, sondern auch für Geschichtsbilder im Lauf der Zeit. (Arsenal 3)

Transformation Scenario (Clemens von Wedemeyer, 2018)

Ein Mann und eine Frau sprechen über eine künftige Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr eindeutig von Agenten unterscheidbar sein könnten, von Versionen ihrer selbst, die aus Daten errechnet wurden. Die Daten können vielerlei Quellen haben: Massenszenen aus Filmen (zitiert werden unter anderem Woodstock und Medium Cool), Aufnahmen von öffentlichen Räumen, jedes Youtube-Video kann interessant sein. Jegliches inviduelle Verhalten läuft auf Modelle hinaus, die Modelle werden dann wieder laufend „individualisiert“. Werden wir so alle zu Komparsen in einem Film, in dem wir nichts zu sagen haben? Eine Reflexion über die Grenzen des spezifisch Menschlichen in einer Gesellschaft radikaler Erfassung und Simulation. (Arsenal 3)

Sylvie et le Fantome (Claude Autant-Lara, 1946)

In Kapitel 3A der Histoire(s) du cinéma denkt Godard darüber nach, warum es „vierzig, fünfundvierzig kein Kino des Widerstands gegeben“ hat. Er nennt dann Rom, offene Stadt, mit dem Italien seine Identität wiedergefunden habe. Und dann geht er noch einige andere Filmnationen durch, von denen er aufzählt, wie sie die Befreiung im Kino verarbeitet haben: „die Russen haben Märtyrerfilme gemacht die Amerikaner haben Werbefilme gemacht die Engländer haben gemacht was sie immer mit dem Kino machen nichts Deutschland hatte kein Kino mehr und die Franzosen haben Sylvia und das Gespenst gemacht“. Der Regisseur Claude Autant-Lara ist als Gegner der Nouvelle Vague geläufig. Wenn man sich Sylvie et le Fantome in der Reihe der Übergangsfilme nach dem Faschismus ansieht (für Deutschland übersieht Godard dabei Unter den Brücken von Käutner), dann fällt tatsächlich auf, dass die Identität, die Frankreich bei Autant-Lara „wiederfindet“, keine für die Gegenwart ist, sondern eine aus dem 19. Jahrhundert.

Sylvie lebt in einem alten Schloss, ein verzaubertes Mädchen, das an seinem 16. Geburtstag in eine Wirklichkeit erwachen soll, in der es keine Geister gibt. Denn Sylvie schwärmt für einen „weißen Jäger“ Alain aus den 1890er Jahren, dessen Bild das Prunkstück im Schloss ist. Leider muss es verkauft werden, weil die Familie klamm ist. Gleichsam zu ihrer Entwöhnung (oder zur Heilung ihrer Krankheit, „dass wir keine Kinder mehr sind“) inszeniert ihr Vater für den Ball einen Auftritt eines Gespensts, er engagiert dafür einen eitlen Schauspieler, der auch gleich mit dem Hamlet-Vergleich kommt. Zwei weitere Männer, die der Zufall in das weiträumige Schloss gebracht hat, teilen sich schließlich mit dem Schauspieler das Geisterkostüm, und die Rolle von Alain – der aber tatsächlich „existiert“, gespielt von Jacques Tati. Es gibt ein paar sehr schöne Szenen mit dem Trickverfahren, das Alain durchsichtig sein lässt, aber doch physisch anwesend: er hält Sylvie die Hand vor den Mund, als sie die Kerze auf ihrer Geburtstagstorte auspusten soll, das ist seine Weise, sie (für sich) ein Kind bleiben zu lassen.

Die Allegorie ist recht deutlich: Sylvie, das Mädchen, das die 16 Jahre seit 1930 (also das Zeitalter des Faschismus) kindlich-unschuldig verbracht hat, kommt zur Welt durch eine Romanze mit einem Mann der sehr alten Schule. Wobei Sylvies Vater sogar noch ältere Zeiträume aufruft, denn er rechnet immer noch in Deniers, der Vorgängerwährung des Franc, der immerhin 1795 eingeführt wurde. Das Drehbuch stammt von Jean Aurenche, der später von Truffaut in seinem berühmten Text über Eine gewisse Tendenz im französischen Kino besonders aufs Korn genommen wurde.

Crisis in Six Scenes (Woody Allen)

Ein Sechsteiler, in dem Woody Allen noch einmal seinen Typ hochleben lässt: einen ängstlichen, selbstverliebten, hypochrondrischen Mann, bei dem alle Ironien auf ihn selbst und seine Gewohnheiten hinaus- und zurücklaufen. Er ist Sidney J. Munsinger, ein Schriftsteller, der einmal einen großen Erfolg hatte, und der mit seiner Frau ein geruhsames Leben führt. Als eine junge Verwandte (Miley Cyrus) auftaucht, werden die Munsingers mit der Gegenkultur der sechziger Jahren konfrontiert. Elaine May spielt Kay, die Frau von Sidney. Wegen Elaine May habe ich mir die Serie, die über Allen-Routine nie hinausgeht, angeschaut. Die beste Idee ist der Buchclub, dem Kay vorsteht: eine Runde alter Damen, die sich von Folge zu Folge stärker radikalisieren. Am Ende könnten sie es ohne Weiteres mit den Black Panthers oder den Weathermen aufnehmen. (Amazon Prime)

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