Die andere Hälfte
Mein Kanon: "Cavalo Dinheiro" (2014) von Pedro Costa
Der Patient Ventura José Tavares Borges, aus Cabo Verde, Maurer in Rente, 19 Jahre alt, Diagnose: Nervenkrankheit, hat sich verlaufen. Eben noch stieg er durch einen finsteren Tunnel in ein Verlies hinab, nun liegt er in einem sauberen Spital, durch dessen Fenster allerdings kein Licht von draußen dringt, sondern nur das fahle Leuchten eines abgedeckten Scheinwerfers. An seinem Bett haben sich ein paar Landsleute versammelt. Sie machen sich Sorgen. Denn mit Ventura scheint es zu Ende zu gehen. Und vor dem Ende, das weiß man nicht zuletzt aus dem Bild vom „Lebensfilm“, geht man alles noch einmal durch. Oder aber, das wäre passender für Pedro Costas Film Cavalo Dinheiro (Horse Money) es geht alles mit einem durch. Lebensgeschichte, Migrationsgeschichte, Kolonialgeschichte, Revolutionsgeschichte, nicht weniger als das ist es, was Ventura umtreibt, diesen zitternden alten Mann, der von sich glaubt, er wäre noch einmal 19, es wäre noch einmal 1975, das Leben wäre dabei, ihn in seinen Malstrom zu ziehen. Dabei wird er gerade ausgespien.
Die große Gleichzeitigkeit, die sich einstellt, wenn das Ende naht, nimmt in „Horse Money“ die Form einer Abfolge von Begegnungen ein, Heimsuchungen eher, und für den Filmemacher Pedro Costa schließt sich damit ein Projekt, an dem er seit den neunziger Jahren gearbeitet hat. Damals ging er für den Spielfilm Ossos (Haut und Knochen, 1997) zum ersten Mal in das Viertel Fontaínhas, in dem vor allem Menschen von den Kapverden lebten, Zuzügler aus der ehemaligen portugiesischen Kolonie. Hier fand Costa eine heroinsüchtige Frau namens Vanda, mit der er dann dokumentarisch weitermachte (In Vandas Zimmer, 2000), und mit jedem neuen Film bekam er neue Figuren und größere Zusammenhänge in den Blick. Jugend voran! (2006) gehörte dann schon ganz dem alten Bauarbeiter Ventura, Fontaínhas ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgerissen, neue Sozialquartiere wurden für die Bewohner gebaut, doch diese bleiben unbehaust, und Ventura sucht an den alten Orten nach einem Halt in einem ganz und gar verwunschenen Leben.
Seine Irrgänge setzen sich in Horse Money fort, nun aber in einer neuen, abstrakteren Qualität. Das Datum des 11. März 1975 wird zum Dreh- und Angelpunkt. An diesem Tag kam Ventura mit der portugiesischen Revolutionspolizei in Kontakt, wurde er von einem anonymen Arbeiter zu einem Subjekt vor einer höheren Gewalt. Rund um dieses Datum lagern sich Erinnerungen an, denen er buchstäblich, mal im traditionellen Rüschenhemd, mal notdürftig verhüllt von seinem Patientenüberwurf, nachgeht. Dabei überlagern sich auch die Geschichten zweier Revolutionen, denn 1975 war das Jahr, in dem die Kapverden unabhängig wurden, eine Folge einerseits des Umsturzes in Portugal, mit dem aber auch eine lokale Freiheitsbewegung an ihr Ziel kam.
In Jugend voran! hatte Ventura ein Lied auf Amílcar Cabral, einen Führer der Partida Africano da Independência da Guiné e Cabo Verde, gesungen, in Horse Money taucht dieses Lied neuerlich auf, ohne dass sich sein Verhältnis zu dieser Revolution in einer Revolution vollständig klären würde. „Gehörst du zum Volk, Ventura?“, fragt an einer Stelle eine Geisterstimme. Die Frage lässt sich nicht beantworten. Denn Ventura ist ein Vertriebener, sein Text ist der bange Brief nach Hause, in dem er davon erzählt, dass sie inzwischen „mehr als hundert“ Einwanderer sind in Lissabon, und dass er das Gefühl hat, seine Beziehungen, seine Liebe, seine Zugehörigkeit zu einem Land sänken in eine Grube. Das war auch schon in Jugend voran! so, in Horse Money liegt er selber in dieser Grube.
Der Behördenbrief ist die Form, in der man sich seiner Identität versichert, häufig erst nach dem Tod. So wird in Horse Money viel offizielle Korrespondenz verlesen, im Flüsterton, als gehöre man nicht einmal mit diesem Dokument einer Wirklichkeit an, die Anspruch auf Gegenwärtigkeit oder Dauer erheben kann. Eine Frau namens Vitalina, die eigentlich eine Witwenrente bekommen müsste, tritt Ventura an die Seite, sie bringt ihn, das „Orakel“, wie Costa ihn einmal genannt hat, zum Sprechen, sie schickt ihn los und holt ihn wieder ein. „Du weißt viel, Vitalina“, sagt Ventura, die zurückgelassene Frau wird zur letzten Instanz, von der man erfahren kann, wo diese Geschichte vielleicht einmal begonnen hat. In diesem Leben vor aller historischen Zeit muss Ventura einmal ein Pferd namens „Geld“ am Start gehabt haben, eine Andeutung eines ganz anderen Lebens, von dem nichts geblieben ist: „Die Geier haben sich darüber hergemacht.“
Costa schickt seinem Film einen fotografischen Prolog voraus. Aufnahmen von Jakob Riis aus nordamerikanischen Elendsquartieren aus der Zeit, in der das Kino gerade begann. How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York (1890) heißt eine dieser Sammlungen. Die „andere Hälfte“, das ist für eine ehemalige Kolonialmacht wie Portugal die Bevölkerung, die aus den Kolonien gekommen und geblieben ist. Menschen, die zum Teil bis heute nicht vollständig dokumentiert sind, die ihre Rechte nicht gelten machen können, die aber auch von sich aus in ein Schattenreich abgetaucht sind, weil sie von Beginn an ihrer Geister nicht Herr wurden.
Die Anstalt, in der Venturas Exorzismus stattfindet, liegt irgendwo im Untergrund, hat aber Ausgänge in alle historischen Richtungen. Die wichtigste Begegnung findet schließlich in einem Aufzug statt. Er trifft hier auf einen steinernen (oder eisernen) Gast, auf die Statue eines Freiheitskämpfers, der ihm die Richtung weist: „Gemeinsam verlassen wir diese Welt.“ Da ist aber immer noch nicht ausgemacht, ob sich das Zittern des Ventura oder die Erstarrung des Monuments durchsetzen wird.
Historisch ist die Sache klar. Was einmal die Kämpfe für Freiheit und Gerechtigkeit waren, ist in die Figur einer offiziellen Erzählung gegossen. Aber der Körper dieses Ventura, bei dem sich Erschütterungen aus dem Innersten bis in die Fingerspitzen fortpflanzen wie bei einem Erdbeben die Wellen von einem Epizentrum bis an die Oberfläche, versetzt den Verhältnissen immer wieder einen Stoß. Er ist also selbst das Epizentrum. Mit Horse Money kommt eines der großen Projekte des Weltkinos an einen würdigen Abschluss, und Ventura José Tavares Borges gibt den Verdammten dieser Erde ein Gesicht, eine Gestalt – und eine Patientenakte, in der nicht weniger als die ganze Geschichte Portugals und der Kapverden Platz finden muss.
Cavalo Dinheiro ist in einer vorzüglichen DVD-Edition bei Second Run erhältlich
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