In die dünne Luft

René Daumals großes Romanfragment "Der Berg Analog" in einer neuen Ausgabe

Den unvollendeten Roman Der Berg Analog von René Daumal habe ich zum ersten Mal vor fünf Jahren gelesen. Anlass war damals die große Arbeit FILM von Tacita Dean in der Tate Modern, für die sie das Buch als maßgebliche Inspiration nannte, und zu der ich ein Interview mit ihr gemacht habe. In deutscher Übersetzung war Der Analog schwer zu finden, die paar Exemplare liefen antiquarisch alle jenseits der 100 Euro. Nun schafft der kleine Verlag zero sharp, der sich bisher vor allem um Raymond Roussel bemüht hat, Abhilfe. Der Berg Analog liegt in einer neuen Übersetzung und mit einem ausführlichen Nachwort von Maximilian Gilleßen wieder vor: „Ein nicht-euklidischer, im symbolischen Verstand authentischer alpinistischer Abenteuerroman“.

Das Abenteuer geht von einer großen Prämisse aus: Irgendwo auf diesem Planeten muss sich eine Erhebung befinden, die den Kontakt mit dem Göttlichen gewährleistet, ein Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Dieser Gipfel müsste höher als alle bekannten sein, und doch auf der physikalischen Erde. Der Erzähler des Romans entwirft den Gedanken zuerst einmal als literarische Phantasie, findet durch diesen Text aber einen Gleichgesinnten, einen älteren Alpinisten namens Sogol, der die entsprechend nicht-euklidische Hypothese entwickelt.

Es wird eine Expedition zusammengestellt, und dann kommt dieser Satz, mit dem Daumal das Genre so richtig beim Wort nimmt: „Am 10. Oktober schifften wir uns auf der Impossible ein.“ Das Ziel ist weit hinten auf der Südhalbkugel, in einer Gegend, in der Platz genug ist für die dimensionale Anomalie, die es erlaubt, dass ein Schiff in eine andere Welt gerät, wenn es sich nur bei Sonnenuntergang in der richtigen Position befindet.

René Daumal hatte mit dem Analog einen Totalroman im Sinn, in dem alle möglichen Abschweifungen und erfundenen Mythen Platz haben sollten. Sein früher Tod 1944 hat ihn daran gehindert, von der Expedition weiter als nur bis zu dem geheimnisvollen Ort Port-des-Singes (Affenhafen) und von dort bis an den Fuß des Analog zu erzählen. Ein vollständiger Aufstieg wäre ohnehin ausgeschlossen, denn durch einen Gipfelsieg von Menschen würde der Analog seine „Analogiekraft“ verlieren, er wäre dann ein ganz normaler, hoher Berg (wie der Mayon auf den Philippinen, hier in einer Aufnahme aus 1899).

Das Buch ist Fragment geblieben, allerdings unter den großen Fragmenten der literarischen Moderne ein besonders schmales. Die „Gemeinschaft, für die es nichts Unmögliches mehr gab“, stürzt über die Klippe eines nicht beendeten Satzes. In seinem Nachwort macht Gilleßen mit den historischen Umständen und mit Daumals prekärer Lebensgeschichte vertraut. Er hatte sich seine Gesundheit mit ziemlich verrückten chemischen Experimenten am eigenen Leib ruiniert. „Daumals entscheidende Erfahrung war die Offenbarung des Absoluten im Schwinden des individuellen Bewusstseins“, schreibt Gilleßen. Man könnte das, auf die Bergexpedition umgelegt, auch so formulieren: er suchte die dünnere Luft der wahren Erkenntnis.

zero sharp würdigt diesen Solitär der Weltliteratur in der Neuveröffentlichung von Der Berg Analog auch mit einer besonderen Schrift, einem Pata-Font, in dem die Buchstaben immer wieder leicht verändert werden. In infinitesimalen Schritten werden die Linien, die die Lettern ausmachen, jeweils neu berechnet. „Jedes Zeichen wird zur Ausnahme von sich selbst“, schreibt Anton Stuckhardt, gemeinsam mit Gilleßen Betreiber von zero sharp.

Die „Wohnstatt einer höheren Menschheit“ bleibt für die Expedition zum Analog unerreichbar. In die Wohnstatt aller Leserinnen und Leser, die sich gern auf Buchstaben nach dem Impossiblen einschiffen, gehört Der Berg Analog aber unbedingt.

René Daumal, Der Berg Analog, zero sharp Berlin 2017

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